„Dem Schmerz ausgeliefert“

Früher habe man vermutet, dass Demenzkranke keine Schmerzen empfinden könnten. Prof. Dr. Engel: „Diese Lehrbücher sind hoffentlich nicht mehr im Umlauf.“ Es sei genau umgekehrt.  Archivfoto: Rothermel

Etwa 17 Prozent der Deutschen haben chronische Schmerzen. Wie nehmen Demenzkranke Schmerzen wahr? Stärker? Schwächer? Müssen sie anders behandelt werden? Darüber haben sich...

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ASSLAR/WETZLAR/DILLENBURG. Etwa 17 Prozent der Deutschen haben chronische Schmerzen. Wie nehmen Demenzkranke Schmerzen wahr? Stärker? Schwächer? Müssen sie anders behandelt werden? Darüber haben sich 240 Pflegekräfte aus dem Lahn-Dill-Kreis informiert.

In der Tagung in der Aß;larer Stadthalle am Mittwoch berichtete Professor Dr. Sabine Engel über das Thema "Demenz und Schmerzen". Sie ist Professorin an der Katholischen Hochschule in Paderborn und arbeitet seit über 20 Jahren mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, sowie mit deren Angehörigen.

Veranstalter war die "Gesellschaft zur Förderung der Gesundheitsregion Lahn-Dill". Der Ärztliche Leiter der Lahn-Dill-Kliniken, Dr. Norbert Köneke, sagte eingangs: Die Veranstaltung solle für das Thema sensibilisieren, denn: "Die Anweisung ,Nehmen sie mal eine Ibuprofen’ ist völlig unzureichend."

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Schmerzen bei Menschen mit Demenz:

"Schmerz ist ein subjektives Gefühl", erklärte Dr. Engel. "Nur der Betroffene kann sagen, dass er Schmerzen hat." Besonders ältere Menschen seien von chronischen, also ständig vorhandenen beziehungsweise wiederkehrenden, Schmerzen betroffen:

25 bis 50 Prozent der über 60-Jährigen,

60 bis 80 Prozent der 60- bis 89-Jährigen,

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über 90 Prozent der über 75-Jährigen.

Ältere Menschen hätten eine Vielzahl von Gründen für Schmerzen: Abnutzungserscheinungen, Gelenkveränderungen, Arthrose, Osteoporose, arterielle Verschlüsse, Rheuma, Parkinson, Tumore, Sturzverletzungen und so weiter.

Die Besonderheit bei an Demenz erkrankten Menschen: Bei ihnen sterben Hirnzellen nach und nach ab. Deshalb falle ihnen häufig das Verorten des Schmerzes schwer, denn Schmerz werde im Gehirn empfunden. Und was man sich laut Dr. Engel als gesunder Mensch nur schwer vorstellen könne: Bei manchen Menschen mit Demenz sei eine bewusste Verarbeitung des Schmerzes nicht möglich. Sie spürten den Schmerz, der Körper reagiere darauf, aber sie könnten es nicht formulieren – "dann sind sie dem Schmerz ausgeliefert".

Auß;erdem könne bei Menschen mit Demenz Schmerz auch durch andere Reize ausgelöst werden. Hätten sie in der Vergangenheit zum Beispiel mal körperlichen Schmerz in Verbindung mit einem Angstgefühl gehabt, sei diese Verbindung in ihrem Schmerzgedächtnis abgespeichert. Werde nun wieder die Angst geweckt, werde auch der Schmerz ausgelöst. Er könne leicht reaktiviert werden. Demenzkranken fehlten hierbei Hemmmechanismen im Hirn.

Neben dem körperlichen Schmerz berichtete Dr. Sabine Engel auch vom "Lebensschmerz" bei demenzkranken Menschen: dem Schmerz, nicht verstanden oder nicht ernst genommen zu werden; dem Gefühl der Sinn- und Nutzlosigkeit; der Scham; der Angst, die Kontrolle zu verlieren. All diese Faktoren könnten auch körperliche Schmerzen auslösen.

Früher habe man vermutet, dass Demenzkranke keine Schmerzen empfinden könnten. Engel: "Diese Lehrbücher sind hoffentlich nicht mehr im Umlauf." Es sei genau umgekehrt: Denn bei Demenzkranken, bei denen das Frontalhirn von der Krankheit betroffen sei, funktionierten auch die Hemmmechanismen im Gehirn nicht mehr. Sie erlebten Schmerzen sogar intensiver.

Schmerzen bei Menschen mit Demenz erkennen:

Körperlicher Schmerz könne man nur schwer durch Auskunft der an Demenz Erkrankten in Erfahrung bringen. Sie tendierten dazu, Schmerzen nicht zu erzählen. Es brauche also einfühlsame Gespräche zur Biografie der Betroffenen. Die einfache Frage "Haben Sie Schmerzen?" reiche nicht.

Auß;erdem müssten Pflegekräfte aufmerksam sein für Wunden, eingewachsene Fuß;- oder Fingernägel, Entzündungen, fauligen Atem, Gelenkveränderungen – all dies könne Schmerzen verursachen. Und sie sollten das Verhalten der Patienten beobachten, auf Atmung, negative Lautäuß;erungen, Gesichtsausdruck und Körpersprache achten.

Schmerzen könnten sich bei Menschen mit Demenz auch untypisch äuß;ern: durch sogenanntes "herausforderndes Verhalten", also zum Beispiel durch aggressives oder unruhiges Verhalten, durch Weglauftendenzen. In den USA habe man – mit Einwilligung – verstorbene Demenzpatienten untersucht. Man habe nach dem Tod Tumore, Knochenbrüche und Bandscheibenvorfälle festgestellt – ohne dass zuvor jemand etwas davon gewusst habe.

"Manche Angehörige sterben durch Erschöpfung sogar vor den an Demenz erkrankten Menschen"

Also habe man sich die Pflegedokumentationen angeschaut und festgestellt, dass sie "herausforderndes Verhalten" gezeigt hätten: Sie hätten nicht geschlafen, nicht gegessen, geschrien oder "Mama" gerufen. Sie seien deshalb mit Neuroleptika behandelt, also ruhiggestellt worden. "Man hatte sie damit in ihre Körper eingesperrt. Den Schmerz hat das Medikament aber nicht gelindert."

Wie kann man den "Lebensschmerz" erkennen? Er entstehe durch nicht erfüllte Grundbedürfnisse. Menschen mit Demenz könnten sie aber nicht äuß;ern. Deshalb müsse man sie mit Empathie in Erfahrung bringen, durch das Eintauchen in die Welt des Anderen mit der Frage: Welches Bedürfnis steckt hinter welchem Verhalten?

Schmerzen behandeln und die Rolle der Angehörigen dabei:

Professorin Dr. Sabine Engel sagte grundsätzlich: "Es gelten dieselben Behandlungsprinzipien wie bei Menschen ohne Demenz." Aber: Ältere Menschen verstoffwechselten Medikamente anders. Bei Demenzkranken komme ein stärkerer Mangel des Hirnbotenstoffs Acetylcholin hinzu. Und manche Medikamente zerstörten obendrein noch die Acetylincholin-Reserven. Diese Medikamente sollten durch andere ersetzt werden, man könne sie in der sogenannten Priscus-Liste nachsehen.

Den "Lebensschmerz" müsse man durch viele Faktoren gleichzeitig behandeln: Medikamente, Physiotherapie, Psychotherapie, soziale Unterstützung. Menschen mit Demenz könnten in jeder Phase ihrer Krankheit glücklich leben, wenn die Umwelt sie unterstütze beziehungsweise angepasst sei: wenn sie ihnen Erfolge ermögliche, Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit gebe und nur Reize zumute, die sie auch verarbeiten könnten.

Dabei seien vor allem die Angehörigen gefragt, sie müssten bei der Behandlung mit ins Boot geholt werden. Und Angehörige müssten unterstützt werden – auch um ihrer selbst willen. "Es ist eine groß;e Aufgabe, die Angehörige zu leisten haben. Und durch die belastende Situation haben sie selbst ein erhöhtes Krankheitsrisiko." Dr. Engel: "Manche Angehörige sterben durch Erschöpfung sogar vor den an Demenz erkrankten Menschen."