Während die Fußballer bedauert werden, dass sie nicht trainieren und spielen dürfen, kümmert sich kein Mensch um die Bälle. Wir haben uns auf den Weg gemacht, das zu ändern.
Von Rüdiger Dittrich
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GIESSEN - Ein langer Gang, es geht an mehreren Umkleidekabinen vorbei, Hinweise auf die Maskenpflicht sind zu lesen, mit Flatterband abgesperrte Bänke stehen im Weg. Von Weitem ist Stimmengewirr zu hören, da singt jemand. Eine Art Chorgesang, vielstimmig, ein Klassiker von "The Stranglers": "Hangin' around". Hinter einer dicken Eisentür gelange ich in einen weiteren Gang, der Gesang wird lauter, aber als ich das Licht anknipse, verstummt er. Gedämpftes Flüstern, ein bisschen Gewimmer und Gezeter hinter den Türen mehrerer Spinde. Ich habe mir von einem Mittelsmann, der früher Mittelfeldmann war, einen Schlüssel besorgt, öffne einen der Schränke - und bin erschrocken.
Bälle, dicht an dicht, eingepfercht auf engstem Raum. Sie quieken sofort los (Bälle haben sehr hohe Stimmen, deshalb klang "Hanging around" auch irgendwie mehr nach Kate Bush als nach den Stranglers). "Hallo, holen Sie uns hier raus, das ist ein Strafraum", ruft mir einer zu. Es mufft übel nach ungewaschenen Fußballschuhen. Leibchen, die unter den Ballsäcken liegen, reiben sich verschreckt die Augen.
Ich versuche, behutsam auf die Bälle zuzugehen, sie quietschen trotzdem aggressiv. Vermutlich haben sie mit Menschen schlechte Erfahrungen gemacht. Getreten, in den Sack gesteckt und wochenlang vergessen. Ich zeige ihnen eine Ballpumpe, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie sind neugierig, bewegen sich - die spröde Ballhaut aneinander reibend - zu mir hin. Der Sack - Käfighaltung ist ein Sch... dagegen - hält sie aber dicht an dicht, und erst langsam gewöhnen sie sich ans Tageslicht.
Oben eingesackt, unten mal kurz frei gelassen. Fazit: Die wollen nur spielen. Foto: rd
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Es ist nicht schön hier, aber man kann sich als Sportredakteur ja nicht immer nur die Rosinen rauspicken. Der Hinweis, dass es nicht nur den Fußballern schlecht gehe in Corona-Zeiten, hat mich stutzig gemacht. "Auch die Kugeln leiden", hat mir einer unserer alten Fußbälle gesteckt, die bei uns in der Garage ihr Gnadentor bekommen. Er ist im Laufe der Jahre handzahm geworden und immer für ein gutes Gespräch zu haben. Dazu muss man wissen: Bei richtiger Pflege können selbst B-Liga-Bälle älter werden als die Ballizei erlaubt. "Ich befürchte, dass es bald rund geht", hatte er noch angemerkt. Ein Aufstand der Bälle aufgrund coronaler Massenball-Losigkeit? Also machte ich mich auf den Weg, stehe jetzt hier am Ballsack - und bin tatsächlich schockiert.
Einer, der sich Derbystar nennt, ist zu einem Interview bereit. Bedingung: Abstand halten, ihn wie die Katze aus dem Sack lassen - und die Stimme verfremden. Ich weise ihn daraufhin, dass er nicht ins Radio kommt, man müsse seine Stimme nicht verfremden, aber das scheint er irgendwie nicht zu verstehen. Du Zeitung, sage ich! Er hält nur die Luft an. Waren Lederbälle früher noch recht clever, konnten ihre eigenen Achtecke zählen und sich die Nähte ziehen, so sind die heutigen Kunstlederstrategen nicht die hellsten Kerzen. Gerade Fußbälle tun sich oft schwer mit Plusquamperfekt, Pythagoras, Kernphysik, aber auch ganz alltäglichen Verrichtungen, wie sich selbst aufzupumpen. Folge eines oft ausschweifenden Lederwandels - meist kommen sie nicht von A nach B, sondern von Ballnadesh nach Adidas. Viele haben auch schon in jungen Jahren zu viele Kopfbälle gemacht. Trotzdem ist Derbystar zu einem Interview bereit.
Wie lange hängen Sie schon hier?
Im Frühjahr drei Monate, jetzt schon die vierte Woche, die Ballsäcke sind im normalen Rhythmus ok, aber wenn du wochenlang nicht raus kommst...
Ja, grauenvoll...
Man kann sich auch nicht aussuchen, mit wem man im Sack ist, da gibt's ruckzuck Stress. Das ist wie Sackrantäne.
Wie kann man Abhilfe schaffen?
Die Ballitik sollte sich nicht nur um Balllanglosigkeiten kümmern, sondern auch mal genau hinschauen. Wir haben seit Wochen keinen Tritt bekommen, wir waren nicht einmal auf dem Rasen, dabei ist das unter freiem Himmel doch gar kein Problem. Das mit dem Abstand kennen wir doch schon vom Mauerstellen beim Freistoß. 9,15 Meter sind's da.
Was wünschen Sie sich?
Ich will wieder spielen. Von mir aus C-Liga auf einem Rotascheplatz, Hauptsache mal raus.
Was denken Sie, wann die Balldemie vorbei ist?
Bin ich Ballistiker oder was? Ich möchte getreten werden. Im Ballsack kann man doch nur lesen. Wenn ich aber sage: Wir wollen raus. Dann heißt es nur: der Spind. Aber ganz ehrlich, ich habe früher mal in einer ganz anderen Liga gespielt. Da hatten wir einen Ballsaal, keinen Sack.