
Seite 14 Ausgabe 2.2019 - Februar auf dem Vulkan
Samba-Express
Eine nostalgische Winterreise in den Vogelsberg von Rainer S c h m i d
Es schneit. Die Loipen am Taufstein sind gespurt,
am letzten Tag der Weihnachts-Ferien.
Die zwei Skilanglauf-AG‘s der Schottener
Vogelsberg-Schule, Talentschmiede
für „Jugend trainiert für Olympia“, können
endlich unter realen Bedingungen
trainieren. Der Spaß der Buben und Mädchen
ist unübersehbar. „Wenn ich mit dem
Rollerski stürze, tut‘s weh, hier nicht“,
meint die talentierte Emma. Diesen Vorzug
schätzen auch die älteren Hobbyläufer,
denen das Schneetelefon den ersehnten
Startschuss gegeben hat. Der erste Schnee
Ende November und dann wieder am dritten
Advent weckte Erwartungen, eingetreten
sind sie endlich gegen Mitte Januar.
Die Webcam auf dem Hoherodskopf bot
über die Feiertage nur regnerische Tristesse.
Früher hatten wir noch „richtige“
Winter, das wehmütig festzustellen, gaben
die letzten Jahre ausreichend Anlass. Hat
das jetzt ein Ende?
Gerda und Klaus müssen früh am Morgen
aus den Federn. Ihr winterlicher Ausflug in
den Vogelsberg ist beschwerlich, doch
auch vergnüglich. Immerhin bringt der
rumpelnde Sonderzug, der seit den 1920-
er Jahren auf der Strecke der „Oberwaldbahn“
verkehrt, die beiden Städter direkt
zum Bahnhof nach Hartmannshain, dem
höchst gelegenen in Hessen. Die ausgehängten
weißen Fahnen an den Bahnhöfen
in Hanau, Offenbach und Frankfurt signalisieren
das Wintervergnügen. Die Stimmung
im „Samba-Express“ mit Musik und
Tanz ist ausgelassen. Da fällt es dem oder
der einen oder anderen schon schwer, am
Ziel die Skier oder den Schlitten zu schultern
und zu Fuß im Schnee aufzusteigen
zur Herchenhainer Höhe, zwei Kilometer
und 200 Meter bergan. Die winterliche
Ausgelassenheit auf dem sonnigen Skiund
Rodelhang ist Klaus und Gerda der
Mühen wert. Auch wenn sie der erste Skilift
erst anfangs der siebziger Jahre erfreut.
Der Spaß mit dem „Samba-Express“ findet
aber bald sein Ende; der Zugverkehr wird
1975 endgültig eingestellt. Ab dann
braucht es Parkplätze an der Herchenhainer
Höhe. Auch jetzt mit Inbetriebnahme
des neuen Skilifts.
Klaus und Gerda, in den Vogelsberger Wintern
zu begeisterten Skilangläufern gereift,
schätzen die Loipen um Taufstein und
Herchenhain über alles. Klaus hat bis in die
achtziger Jahre auch an Wettkämpfen teilgenommen.
Seine Aufzeichnungen belegen
durchgängige Schneelagen für die
Wintermonate. Spätestens seit Ende der
1980-er Jahre war aber Schluss. An ein regelmäßiges
Training war nicht mehr zu
denken. Zu unbestimmt waren die winterlichen
Gegebenheiten. Die schneelosen Tage
nahmen von Jahr zu Jahr zu. Sein geliebter
Langlauf wurde zum gelegentlichen
Freizeitvergnügen.
Schöner und aufregender sind seine Erinnerungen
an die winterlichen Erlebnisse
seiner Kinder- und Jugendzeit. Die Weihnachtsferien
bei den Großeltern im Vogelsberg
waren immer auch Winterurlaub.
Und selbst an manchen Ostern konnte man
das noch sagen. Der andauernde knackige
Frost, nicht selten um minus zwanzig Grad,
ließ Seen und Bäche zufrieren.
Oft hatten die Herbstregen den Seenbach
über die Ufer treten lassen, und mit dem
Frost entstanden Kilometer lange Eisflächen
auf den Talwiesen. Erwachsene und
Kinder nutzten sie zum Schlittschuhlaufen.
Zum Eishockey spielen mussten geeignete
Astgabeln gesucht, geschnitten und hergerichtet
werden. Opa machte das für uns
Kinder und hatte damit viel zu tun. Die waren
nämlich bei unserem fehlenden Talent
aber ruppigen Spiel rasch kaputt, so wie
die Absätze an den Schuhen auch. Die „Hudora“
Schlittschuhe waren mit Stahlbacken
befestigt, die Schuhsohle und -absatz
umfassten und mit einem Vierkantschlüssel
festgezogen wurden. Die häufige Reparatur
der abgerissenen Absätze führte
nicht selten zum elterlichen Verbot des Eislaufens.
Meist hatten wir ja nur ein Paar
geeignete Winterschuhe.
Noch größerer Ärger drohte Klaus und seinen
„Kumbels“, wenn sie ihre Rodelbahn
abends verstohlen mit Wasser präparierten,
die dann zur gefährlichen Eisbahn gefror.
„Ihr Schliddebahn“ war aber eine
Dorfstraße und morgens war „‘s Gekreisch“
der Anwohner (zurecht) groß.
Auch wenn es rechts und links geräumte
Laufwege gab. Die Rodelbahn endete übrigens
in der Scheune eines am Ende der
Straße querstehenden Bauernhofs; „‘s
Scheierdoor“ war aber immer geöffnet.
Die „Bouwe“ hätten auch anderswo
„schlitteln“ können, aber im Ort, quasi vor
der Haustür, durch Straßenlampen hinreichend
hell, war‘s bequemer. Und die
„Meedscher“ schauten dann auch einmal
vorbei und freuten sich, auf den zu langen
Ketten gekoppelten Schlitten mitfahren zu
dürfen. Gerda war auch dabei.
Die frostigen Winterwochen waren nicht
nur Vergnügen. Man war in ständiger Sorge
um das Brennholz. Reichten die angelegten
Vorräte oder musste man nochmals
in den Wald? Bei entsprechender Schneelage
war das gar nicht möglich, dann musste
vielleicht zu Wucherpreisen zugekauft
werden. Aber Opa wusste eigentlich immer,
was für den Winter gebraucht wurde.
Beheizt wurde nur die Küche, hin und wieder
auch die „Wohnstubb“. Im Schlafzimmer
halfen warme Bettsteine oder „e
Wärmflasch“. Die Fensterritzen waren abgedichtet.
Auch der Pumpbrunnen im Hof
war eingepackt, um das Gefrieren des stehenden
Restwassers zu verhindern. Wasserleitungen
im Haus gab es anfangs noch
nicht. Der Abtritt war im Hof neben der
Mistkaute. Ein „Aabee“-Besuch im frostigen
Winter, insbesondere frühmorgens,
war eine echte Herausforderung.
Aller Unbill zum Trotz, man war auch auf
den Frost angewiesen. Vor allem der Bauer
schätzt ihn. Erst gefrorener Ackerboden
wird zur Wachstum förderlichen lockeren
Ackerkrume. Und die ungeliebten Feldmäuse
verschwinden nur mit Dauerfrost.
Wichtig war auch das Eis der zugefrorenen
Weiher, das geerntet wurde, um Lebensmittelvorräte
und Getränke zu kühlen. Eishändler
pachteten Gewässer und versorgten
Brauereien, Hotels und Gaststätten.
Eigene Eiskeller standen ihnen für die Monate
lange Lagerung zur Verfügung. Der
Eisverbrauch von Brauereien war enorm.
Doppelwandige Eisschränke halfen den
privaten Haushalten beim Frischhalten
ihrer Lebensmittel. Auch Klaus‘ Opa war
mit der Säge und dem Schubkarren unterwegs,
um Eisstangen zu schneiden. Sie kamen
in ein hergerichtetes Eisloch im lehmigen
Kellerboden.
Klaus und Gerda können sich nicht erinnern,
dass in den Weihnachtsferien kein
Schnee gelegen hätte. Nicht selten reichte
er bis zu einem Meter hoch und blieb in höheren
Lagen manchmal auch bis in den Mai
hinein liegen. Der April war immer gut für
späte Schneefälle, und manches bunte Osterei
musste von den Kindern im verschneiten
Garten gesucht werden. In den Wind
ausgesetzten Hochlagen konnten auch
noch heftige Schnee- und Eisstürme durch
den Oberwald fegen.
Diese Vogelsberger Winter begünstigten
auch die rasante Entwicklung des Skisports.
Der TGV Schotten, seit jeher größter Verein
der Region, gründete 1920 eine eigene
Abteilung für den „Schneeschuhlauf“. In
den 1930-er Jahren gab es erste kleine Skisprungschanzen
am Hoherodskopf und am
„Höllerich“ in Bermuthshain, die später
durch leistungsfähigere ersetzt wurden.
Die Schanze in Bermuthshain wurde 1970
eingeweiht, ist aber schon nach zehn Jahren
nicht mehr genutzt und dem Verfall
überlassen worden. Die Hoherodskopf-
Schanze, erbaut 1953, entsprach 1976 nicht
mehr den Bedingungen des Wettkampfsports
und wurde abgerissen. Der Schanzenrekord
lag übrigens bei stolzen vierunddreißig
Metern.
Winter auf dem Vulkan, Winter im Vogelsberg,
richtige Winter, ist das nur noch Erinnerung?
Gerda und Klaus sind nach diesem
Januar wieder optimistisch, die herrlichen
Loipen, Rodel- und Skipisten mit ihren Enkelkindern
weiter erleben zu können.
Winter im Oberwald.Foto: Schmid
Zufluchtsort Wildholl-Loch – eine
kleine Basalthöhle im Vogelsberg
wurde als Naturdenkmal ausgewiesen.
Foto: Susanne Jost
Zufluchtsort für Hirten
und die Wilde Holle
In einem kleinen Wäldchen nahe der Unter-
Seibertenröder Grillhütte bildet eine Blockhalde
aus Basanit die Grundlage für einen
märchenhaft schönen Buchenwald, den
Lohwald. Dieser Name könnte Zweierlei bedeuten:
Das mittelhochdeutsche Loh steht
für Loch oder lucus aus dem Lateinischen
für Gehölz, Wald oder Hain, aber auch einfach
nur für Holz. Und es bezeichnet einen
Waldbestand, an dem einer oder mehrere
Genossen das Holznutzungsecht haben,
einzelne Gemeindemitglieder zweimal
jährlich Holz schlagen dürfen und wiederum
andere Waldnutzungsrechte, wie z. B.
die Jagd oder das Eichenschälen ausüben
dürfen. Inmitten dieses Lohwaldes befindet
sich das Wildholl-Loch, eine kleine Basalthöhle.
Sie ist nicht sehr groß, zwei Personen
finden darin Platz, wenn sie sich zusammenkauern.
Bei aufziehendem Unwetter
bot die Höhle den Menschen Schutz, Hirtenjungen
haben sich dort bestimmt versteckt
– denn wahrscheinlich stammen einige
der Buchen dort noch von alten Hutebuchen
ab. Oberhalb der Höhle befindet sich
ein Hirtenstein, der als Sonnenuhr den
Viehjungen die Zeit wies. Die Buche kommt
mit der Höhenlage über 400 Metern und
dem vulkanischen Untergrund bestens zurecht.
Wegen des steinigen Untergrundes
fand hier keine Waldaufforstung mit Nadelgehölzen
statt. Wenn man sich das Gestein
betrachtet, fällt auf, dass es ein besonders
blasenreicher Basanit ist, feinkörnig,
dicht und dunkelgrau bis schwarz gefärbt.
Solche Höhlen im Basalt gibt es selten, aber
ohne Sagen und Steine geht es auch hier
nicht: Wer sich mittags in die Nähe der kleinen
Höhle wagt, sieht vermutlich die „Wilde
Holle“ heraustreten. Der Sage nach beginnt
am Ulrichsteiner Schlossberg ein
Gang, der genau hier ans Tageslicht führt.
Die „Wilde Holle“ ist eine besondere Hollegestalt,
die ihren Schimmel im Wald versteckt
und ihn nachts an die im Tal fließende
Ohm zur Tränke führt. Vermutlich hat
die Sage der „Wilden Holle“ ihren Ursprung
in der keltischen Pferdegöttin Epona. Ihre
Verehrung war bis in die Spätantike im gesamten
keltischen Raum verbreitet. Sie wurde
meist mit Pferden, oft auch mit einer
Schale, Früchten oder einem Füllhorn abgebildet,
was auf eine zusätzliche Funktion als
Fruchtbarkeitsgöttin schließen lässt.