Auf dem Marktplatz von Hijar versammeln sich am Gründonnerstag Hunderte Menschen um den Karfreitag lautstark zu beginnen. Foto: Günter Schenk
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Kurz vor Mitternacht kommt Leben ins Dorf, füllen sich in Hijar die Straßen. Alt und Jung sind auf den Beinen und wie immer am späten Abend des Gründonnerstags zieht es die Menschen Richtung Marktplatz. Die Damen haben kleine Trommeln unter dem Arm, die Herren große Pauken vor den Bauch geschnallt. Schwarze Kutten mit weißen Krägen tragen sie alle. Andächtig sind die einen, ausgelassen die anderen.
Bald aber wird es ruhiger auf dem weiten Platz im Herzen Aragoniens, der dünn besiedelten und landwirtschaftlich geprägten Region zwischen Barcelona und Madrid. Je weiter die Uhr Richtung Karfreitag rückt, desto mehr verstummen die Gespräche. Fast unheimlich ist schließlich die Stille, die mit Anbruch des neuen Tages ein dumpfer Schlag durchdringt. Bumm. Wie jedes Jahr schlägt der Bürgermeister eine riesige Pauke. Es ist der Auftakt zur lautesten Nacht des Jahres. Zu einem lärmenden Inferno, das die Ohren mit bis zu 114 Dezibel strapaziert und damit lauter als ein Presslufthammer ist.
Wie in Hijar schlagen Punkt Mitternacht auch in einer Handvoll umliegender Gemeinden Tausende wie Besessene auf Pauken und Trommeln. „Romper la hora“ heißt der Brauch, mit dem man in Nieder-Aragonien des Leidens und Sterbens Christi gedenkt.
INFORMATIONEN
Brauchtum: Die „Romper la hora“ (frei übersetzt: „Zerschlagen der Stunde“ oder „Bruch der Zeit“) soll an den Tumult bei Jesu Gefangennahme erinnern, vor allem aber an das Beben der Erde, das den Kreuzestod Jesu begleitete.
Veranstaltungen: Mehr als 100 Prozessionen weist der Veranstaltungskalender entlang der Trommelroute aus. Am schönsten ist die „Romper la hora“ in Hijar (Gründonnerstag, 24 Uhr) und in Calanda (Karfreitag, 12 Uhr), www.rutadeltamborybombo.com.
Doch was früher nur ein Stück lokaler Volksfrömmigkeit war, ist inzwischen touristische Attraktion. In Calanda, das sich selbst gern Trommelhauptstadt nennt, hat man den Brauch deshalb auf den Karfreitagmittag verlegt. Punkt Zwölf bricht hier das Inferno aus. Und wie immer ist das spanische Fernsehen live dabei. Die Trommler Aragoniens konkurieren auf dem Bildschirm mit den Büßern Andalusiens, den großen Karprozessionen in Sevilla oder Malaga.
In Nieder-Aragonien ist die „Romper la hora“ aber mehr als der Höhepunkt der Karwoche. Genauer betrachtet ist es ein kollektiver Freudenrausch, beseelt von Wein, Bier und Schnäpsen, die wie zum rheinischen Karneval längst auch zu Spaniens Karfreitagsriten gehören. Das gemeinsame Trinken, so deuten es manche Kulturforscher, erinnere an das letzte Abendmahl, mit dem Christus einst Abschied von seinen Jüngern nahm.
Im letzten halben Jahrhundert hat sich die Zahl der Krachmacher mehr als verdoppelt. Diese Form der Volksfrömmigkeit kommt vor allem der Jugend entgegen – und auch den Frauen, welche man lange Jahre gar nicht oder nur widerwillig am Brauch teilhaben ließ.
Inzwischen gehören junge Frauen zu den Trommel-Motoren. So wie Maria, die mit fünf anderen jungen Damen vor der Disco in Hijar ihr Karfreitagsbier trinkt. Ausgelassen malträtieren sie immer wieder ihre Pauken, als wollten sie den Burschen zeigen, wer heute den Ton angibt.
„Cuadrilla“ nennen die Spanier die einzelnen Trommelgruppen, die in Bruderschaften, Freundeskreisen oder familiären Verbänden organisiert sind. Manchmal sind es nur drei oder vier Leute, oft aber Gruppen von 30 und mehr. „El Jefe“ nennen sie den Vor-Trommler, der den Rhythmus vorgibt. Schlagen alle synchron auf ihre Felle, ist der Höhepunkt der Tamborada erreicht. Diese kann Minuten dauern, aber auch schon mal fast eine Stunde lang wie in den Trommelhochburgen Hijar oder Calanda. Dort gehörte der berühmte Filmregisseur Luis Bunuel, dessen Sohn Jean-Lois den Brauch 1966 in einem anspruchsvollen Schwarz-Weiß-Film dokumentierte, zu den eifrigsten „Fellverhauern“. Als ein undefinierbares Gefühl, das sich rasch in einen Rausch verwandelt, beschrieb er in seinen Lebenserinnerungen die Tamborada. Wenn immer es ihm möglich war, traktierte er in seiner Heimatstadt Calanda das Schlagwerk. War er unterwegs, packte er pünktlich am Karfreitagmittag, wo immer er sich auch befand, seine Trommel aus, um seiner Leidenschaft zu frönen. Für ihn war sie ein „kosmisches Phänomen“, das ans „kollektiv Unbewußte“ grenzte.
Inzwischen gilt das gemeinsame Trommeln in Nieder-Aragonien als das wichtigste Stück regionaler Identität. Mancherorts sind fast die Hälfte aller Einwohner beim großen Trommeln, der „Romper la hora“, dabei. Bis zu 20 000 Menschen jährlich, vom Kind bis zum Greis. Und auch den Karprozessionen drücken die Trommler ihren Stempel auf. Dann marschieren sie in Kolonnen – außen die Trommler, innen die Männer und Frauen mit den Pauken, zwischen den einzelnen Pasos. Die dreidimensionalen Bilder vom Leiden und Sterben Christi, die sich in fast jeder spanischen Kirche finden, werden von Palmsonntag an durch die Straßen der Dörfer und Städte getragen. Jesu Einzug nach Jerusalem zeigen sie ebenso wie seinen Kreuzweg, seine Schmähungen und Verhöhnungen, aber auch Maria, die leidende Mutter Gottes.
Bumm-Bumm-Bumm. Noch immer hallt es durch die Dörfer entlang der Trommelroute. Mehr als 24 Stunden sind die Tapfersten jetzt schon unterwegs, manche mit blutverschmierten Fingern. Längst hat sich die Haut von der Schlaghand gelöst, Frisches Blut tröpfelt auf die Felle der Pauken. Rostrot werden sich die Flecken nächstes Jahr zeigen, als sichtbarer Beweis für die Leidenschaft, die keinen Schmerz kennt. Nur Weicheier tragen Handschuhe oder binden sich ein Tuch um die Knöchel, sagt man.
Immer wieder begegnen sich kleine Gruppen, treffen die letzten Fellverhauer zusammen. Auch wenn man miteinander wetteifert und versucht, die anderen aus dem Takt zu bringen, ist am Schluss doch aus vielen Individuen eine neue Gemeinschaft gewachsen.