Ex-Neonazi: „Zu einem Mord wäre ich nicht bereit gewesen”

Felix Benneckenstein war neun Jahre lang in der Neonazi-Szene unterwegs., dann stieg er aus und hilft heute anderen Ausstiegswilligen.
© Benneckenstein

Wie Felix Beneckenstein als Teenager in die rechte Szene geriet, auf welche Weise er wieder herausfand und warum der 35-Jährige heute selbst für ein Aussteigerprogramm arbeitet.

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München. Wie wird man zum Neonazi? Und wie gelingt der Ausstieg? Felix Benneckenstein, selbst neun Jahre in der rechten Szene aktiv, hilft heute Ausstiegswilligen dabei, wieder herauszufinden. Ein Gespräch mit dem 35-Jährigen über Selbstzweifel, die Gefahr für „Verräter” und den Rechtsextremisten Stephan Ernst, der als Mörder des Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verurteilt wurde und im Gefängnis an einem Aussteigerprogramm teilnimmt.

Herr Benneckenstein, worauf kommt es an, wenn man aus einem überzeugten Nazi einen überzeugten Demokraten machen will?

Bei Exit-Deutschland setzen wir auf Eigeninitiative und den nicht-aufsuchenden Ansatz, wir arbeiten also mit Menschen, wenn sie Unterstützung bei ihrem selbst gefundenen Weg wünschen. Wir unterscheiden uns da teilweise von staatlichen Initiativen, die auf die Leute zugehen. Das Wichtigste sind Ernsthaftigkeit, Erfahrung und Vertrauen. Bei allen Fällen, die ich kenne, gibt es zunächst Irritationen: Wenn sich ein frisch angehender Aussteiger meldet, ist das immer mit vielen Fragen verbunden …

Geht es dabei um die Glaubwürdigkeit der Ausstiegsabsicht?

Neonazis sind immer in einem bestimmten Raum aktiv, bei mir war es vor allem die Region München. Da gibt es Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern bis hin zu Übergriffen, es spielen viele persönliche Dinge rein, wenn sich über Jahre Freund-Feind-Muster eingeschliffen haben. Außerdem stellt ein Ausstieg niemals einen logischen Prozess dar: „Was ich bisher getan habe, war blöd, ich möchte jetzt das Gegenteil tun.“ Das ist überhaupt nicht logisch. Daher gibt es, von außen betrachtet, immer erst mal Grund zum Zweifeln.

Wie baut man diese Zweifel ab – gerade wenn man es mit einem verurteilten Mörder wie Stephan Ernst zu tun hat? 

Es braucht Zeit, bis man einem Aussteiger objektiv begegnen kann, es kommt auch auf die Rolle und die Taten der Person an. Im Fall von Stephan Ernst geht es um einen kaltblütigen Mord aus ideologischen Gründen – eine der radikalsten Taten für diese Ideologie. Es erscheint schwer vorstellbar, dass jemand, der gerade einen Menschen aus rechtsextremen Motiven umgebracht hat, dann auf einmal auf Deradikalisierung und Ausstieg setzt. Ich rate zu Transparenz bei den Denkprozessen – Aussteiger sollten sich nach Möglichkeit darauf einlassen, ihre Motivation zu erklären und gegebenenfalls auch offenzulegen.

Wie geht man als Aussteiger selbst mit dem Misstrauen um?

Das ist eine schwierige Phase. Von der rechten Szene wird einem vorgeworfen, dass man nicht aus inhaltlichen Gründen ausgestiegen ist. Da heißt es: Der will seinen Arsch retten, hat Dreck am Stecken oder war von Anfang an vom „Feind“ geschickt – da gibt es 1000 Geschichten … Dir wird von beiden Seiten, Nazis und Gesellschaft, abgesprochen, dass du ausgestiegen bist, weil du umgedacht hast. Es ist ein ordentliches Brett, das man vor sich hat. Da kommt man nur schrittweise raus und am besten mit einer Organisation an der Hand, die den Überblick behält.

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Es erscheint schwer vorstellbar, dass jemand, der gerade einen Menschen aus rechtsextremen Motiven umgebracht hat, dann auf einmal auf Deradikalisierung und Ausstieg setzt. 

Felix Benneckenstein Ehemaliger Neonazi

Was gab bei Ihnen den Ausschlag zum Umdenken?

Das war ein jahrelanger Prozess der Auseinandersetzung. Teilweise wollte ich die Weltanschauung „retten“, an einen „moderneren“ Nationalsozialismus glauben. Bei mir fand ein Wandel im Kopf statt, der zunächst gar nicht in Richtung Ausstieg ging. Es gab aber keinen bestimmten einzelnen Anlass zum Ausstieg, sondern hauptsächlich viele Irritationen, die mich alle Denkmuster vom Rassismus bis zum Antisemitismus nach und nach in Frage stellen ließen. 

Die Familie Ihrer Frau Heidi besteht selbst aus Rechtsextremen und hat darüber ein viel beachtetes Buch geschrieben. In welchem familiären Umfeld sind Sie aufgewachsen?

Es war eine Erziehung zu einem freien Geist und dazu, alles zu hinterfragen. Daraus kann man dann als junger Mensch auch auf den Trichter kommen, die offizielle Version zum „Dritten Reich“ zu hinterfragen. Letztlich hat es zum gleichen Ergebnis geführt wie die Erziehung durch überzeugte Neonazis, die der alten Ideologie anhängen. Im Ausstiegsprozess half zumindest in meinem Fall diese Erziehung zu Demokratie, Offenheit und Meinungsvielfalt aber dabei zu erkennen, dass es Unrecht war, was ich getan habe. 

Ging es also auch darum, gegen das liberale Elternhaus zu rebellieren und zu provozieren?

Nicht nur gegen die Eltern, auch gegen Lehrer, da bin ich mir auch sehr gut vorgekommen in der Rolle, die auch inhaltlich zu provozieren. Das Bild von den linken Lehrern, die gezielt geschickt werden, um die deutsche Jugend zu „verpesten“, passt da schon ins eigene Weltbild. 

Das Bild, das die meisten Leute von Neonazis haben, ist noch von den Achtzigern geprägt: Glatze, Bomberjacke, Stiefel – stimmt das heute noch?

Ich warne davor zu sagen, das gibt es heute nicht mehr, vor allem bei Nazi-Konzerten gibt es das noch. Aber schon als ich in die Szene vor mehr als 20 Jahren eingestiegen bin, wurde gebetsmühlenartig gepredigt: Zieht euch nicht so an, wie die Medien euch haben wollen, verzichtet auf Szene-Klamotten. In der Öffentlichkeit sieht man solche Leute kaum noch, gleichwohl braucht man sie, weil sie die Kassen füllen. Auch bei größeren Aufmärschen läuft diese Klientel noch mit.  

Mordfantasien gegen Polizisten aus Überzeugung legitimiert

Welches Ziel hatten Sie als Neonazi, ging es um gewaltsamen Umsturz, die Revolution? 

In meinem Ausstiegsprozess habe ich mir diese Frage oft gestellt: Was willst du eigentlich? Ein erklärtes Ziel vieler Neonazis ist: Wir stürzen den kapitalistischen Kriegstreiberstaat, der an allem schuld ist und der in ihrem Narrativ „freie Völker“ zu Knechten macht. Das ist auch traditionell sehr mit Verschwörungserzählungen aufgeladen. Ich habe mit Anfang 20 zum ersten Mal nachgedacht: Wie soll so ein Nazi-Staat eigentlich aussehen? Sich das richtig vorzustellen und zu fragen: Will ich darin überhaupt leben? – das kam erst im Ausstiegsprozess, da habe ich auch erkannt: Vieles ist nicht bis zum Ende durchgedacht. In der Szene ist alles dabei, von Sadisten bis Idealisten. Manche reden sich ein: Der Staat ist böse, wir sind gut, wir setzen uns für die Schwachen und für Frieden ein. Aber es gibt auch Leute, die einfach nur einen autoritären Staat wollen, der Angst und Schrecken verbreitet, keine anderen Meinungen zulässt. Diese wird man natürlich nur schwer mit Argumenten überzeugen können. Da hilft oft nur die volle Härte des Rechtsstaates und die klare Kante der Gesellschaft.

Hätte es bei Ihnen ähnlich enden können wie bei Stephan Ernst – mit einem Mord?

Zu einer solchen Tat wäre ich vermutlich nicht bereit gewesen – das Schlimme ist aber, dass ich es wahrscheinlich richtig gefunden hätte. Das zeigt mir, wie ich damals drauf war. Nach rassistischen Straftaten hieß es immer öfter: Schnappt euch lieber Politiker, die haben das alles zu verantworten. Und hier hat es tatsächlich jemand gemacht. Es ist immer etwas anderes, wenn so etwas wirklich passiert, aber ich bin mir sicher: Bis auf das erste und das letzte Jahr, in dem ich in der Szene war, wäre das für mich eine nachvollziehbare Aktion gewesen. Sicherlich hätte ich bei meinen Auftritten zur Solidarität mit dem Täter aufgerufen und vielleicht Spenden gesammelt, weil das genau die Straftat ist, die man sich als Neonazi wünscht.  

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Sicherlich hätte ich bei meinen Auftritten zur Solidarität mit dem Täter aufgerufen und vielleicht Spenden gesammelt, weil das genau die Straftat ist, die man sich als Neonazi wünscht.  

Fleix Benneckenstein Ehemaliger Neonazi über den Rechtsterroristen Stephan Ernst

Mit welchen Gefühlen schauen Sie heute auf den Felix von damals?

Ich schäme mich einerseits ganz klar dafür, aber ich kenne mich und finde das daher auch lächerlich: Ich war selbst der größte Chaot und wollte einen NS-Staat aufbauen (lacht). Ich wäre selbst nicht mal als reinrassiger Deutscher durchgegangen. Gleichzeitig habe ich Mordfantasien, zum Beispiel gegen Polizisten, aus vollster Überzeugung legitimiert. Ein bewaffneter Umsturz war aus meiner Sicht unausweichlich, es musste auch nochmal einen „letzten Krieg“ geben, damit in der Welt Frieden herrschen könne. So war ich drauf. Ohne mich nachträglich unnötig aufzuwerten: Es war schon gefährlich, das Gefährliche ist aber die Ideologie. Das, was man im Kopf hat, die Feindbilder – Menschen, die einem in aller Regel nichts getan haben, und die damit verbundenen Lösungen. Das kann nur über Terror funktionieren. Das macht es so gefährlich.

Wie kam es, dass Sie nun selbst für ein Aussteigerprogramm arbeiten?

Anfangs hatte das mit Wiedergutmachung zu tun, die eigene Erfahrung für etwas Positives zu nutzen. Das hilft, gerade wenn man in einem psychischen Loch ist. Anfangs war das ein ehrenamtliches Engagement und für mich logisch. Mein eigener Ausstieg dauerte sehr lange; wenn ich früher einen Kontakt aufgebaut hätte, wäre ich wahrscheinlich zwei, drei Jahre eher ausgestiegen. Daraus wuchs die Erkenntnis: Es ist gut, wenn da Leute vor Ort sind. Manche melden sich gezielt bei mir. Da hilft vielleicht meine aus Erfahrungen und der Arbeit gewachsene Expertise, bestimmte Denkmuster und Schablonen zu verstehen, etwa wenn jemand noch zweifelt und sich an etwas festhält. Ich kenne die Macht der Ideologie auf den eigenen Verstand und das ist hier ein klarer Vorteil. Mittlerweile mache ich das elf Jahre, davon sechs Jahre als Angestellter bei Exit-Deutschland. 

Haben Sie noch Kontakt zu Kameraden von damals, gibt’s darunter weitere Aussteiger?

Soweit sich das verfolgen lässt, sind viele ihren Weg weiter gegangen. Wenn ich manche Nazi-Aufmärsche sehe, gerade von „Der III. Weg“ (rechtsextreme Kleinpartei, Anm. d. Red.), da kenne ich gefühlt jeden über 30 Jahren noch persönlich. Die Führungskader hier in Bayern machen weiter das, was sie früher gemacht haben. Manche sind ruhiger geworden, weil sie Kinder haben oder auf Bewährung sind. Ich habe auch einige Ausstiege mitbekommen, und manche davon können damit nicht an die Öffentlichkeit gehen. Ich habe auch Kontakt zu ein paar Leuten, die sich offiziell noch am Rand der Szene bewegen und in Vergessenheit geraten sind. Aber wenn sie weiter wohnen bleiben wollen, wo sie wohnen, sind sie gut beraten, das überhaupt nicht an die große Glocke zu hängen. Klar gibt es auch unter den normalen Betreuungs-Fällen Aussteiger, die mich von früher noch kennen. Sogar solche, die mich persönlich noch bedroht haben, sind darunter. Nach einem kurzen Gespräch ist das in aller Regel aber geklärt und vergessen. Jeder Mensch hat jeden Tag die Möglichkeit, sich zu verändern. 

Welches Risiko geht man als Aussteiger ein?

Ich selbst lebe relativ öffentlich. Generell gilt: Beim Ausstieg werden alte Freunde zwangsläufig zu Feinden, dessen muss man sich bewusst sein. Einen Weg zurück gibt es nicht. Daraus folgt häufig auch Bedrohung, je nachdem, wie dein Umfeld drauf war. Eigentlich sind es mehrheitlich positive Entwicklungen – vom Misstrauen, das einem begegnet, mal abgesehen. Viele haben nach Jahren in dieser Szene einen Tunnelblick, machen dann aber die Erfahrung, dass die Gesellschaft aus mehr als den Nazis und der Antifa besteht und dass es Leute gibt, die das einfach abhaken können.  

Keine Chance darauf, „vergessen” zu werden

Stehen Sie noch im Fokus der Szene, oder haben Sie und andere Aussteiger die Chance, „vergessen” zu werden?

Auf dem Schirm sollten die Nazis mich haben – nicht weil ich so gefährlich bin (lacht), aber allein wegen der Ausstiegsarbeit. Vergessen wird man so schnell nicht, aber man kann vielleicht in der Hierarchie der „Feinde“ ein wenig sinken. Bei einem „leisen“ Ausstieg versuchen wir, dass der „Verräter-Verdacht“ nicht aufkommt. Die Zeit arbeitet dabei für uns, das Internet ist das Hauptproblem – es vergisst manches, aber nicht alles.  

Haben Sie keine Angst um Ihre Familie? Immerhin wurden Sie nach Ihrem Ausstieg bedroht…

Man muss das schon mitdenken. Ich weiß, dass ich mit Kindern angreifbarer bin – ich denke seitdem anders und trete auch anders auf. Du bist einfach nicht mehr so unantastbar und sorglos. 

Ich hoffe, dass meine Kinder keine Probleme bekommen wegen mir – von der einen wie der anderen Seite. 

Felix Benneckenstein Ehemaliger Neonazi

Wie werden Sie Ihre Vergangenheit später eigentlich mal Ihren Kindern erklären?

Auch hier ist Offenheit extrem wichtig. Ich hoffe, dass meine Kinder keine Probleme bekommen wegen mir – von der einen wie der anderen Seite. Aber wer meine Biografie sieht, erkennt, dass ich nach neun Jahren in der rechten Szene jetzt seit zehn Jahren Ausstiegsarbeit mache, mich so für Demokratie und Vielfalt einsetze. Das wird schon anerkannt.

Die Erkenntnis aus Ihrer Biografie ist, dass es sich um jeden Einzelnen zu kämpfen lohnt?

In der Ausstiegsarbeit habe ich mehrere Fälle gehabt, bei denen ich noch Jahre zuvor dachte: So einer steigt nie aus. Man kann niemand in den Kopf gucken. Richtern empfehlen wir, bei Angeklagten, die aussteigen wollen, erstmal misstrauisch zu sein, wenn dahinter keine Organisation steht. Generell glaube ich, dass es sich um jeden zu kämpfen lohnt. Repression ist wichtig, auch die Abgrenzung von rechtsextremen Ideologien, aber jedem sollte in unserer offenen, demokratischen Gesellschaft ein Ausstiegsangebot möglich sein: jemand, der falsch gedacht hat, darf wieder richtig denken und dann zurückkehren. Alles andere hätte etwas von einer Kapitulation. 

So twittert die Aussteiger-Initiative „Exit-Deutschland” über ihre Arbeit