Wir wollen in unserer Serie von Wählerinnen und Wählern wissen, was sie von der neuen Bundesregierung erwarten. Heute sagt Hausärztin Dr. Sabine Thiel ihre Meinung.
SCHLANGENBAD. Wenn Dr. Sabine Thiel in drei bis fünf Jahren Post von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bekommt, muss sie sich vermutlich warm anziehen. Die Hausärztin hat sich in der Pandemie stark ins Zeug gelegt, viel getestet, viel behandelt, viele Hausbesuche gemacht. Schön für ihre Patienten, aber mutmaßlich schlecht für ihre finanzielle Situation. „Ich muss damit rechnen, später Regress dafür zu zahlen“, weiß die Medizinerin. Eine Änderung des Abrechnungscontrollings ist daher auch ihre drängendste Forderung an die neue Bundesregierung. Damit weiß Thiel sich im Einklang mit vielen Kollegen, mit denen sie sich in einem regionalen Qualitätszirkel vernetzt hat.
Hausbesuche und Testzelt im Hof
Regress wird erhoben, wenn einzelne Ärzte bei gleichen Leistungen wie Berufskollegen zahlenmäßig auffällig werden. Anlass können Hausbesuche ebenso sein wie Verordnungen von Medikamenten, Physiotherapie oder PCR-Tests. Als Teststreifen noch ebenso rar waren wie Testtermine, hat Thiel ein Testzelt in den Hof hinter der Praxis gestellt. Sie dachte dabei an ihre älteren Patienten. „Gekommen sind Menschen aus dem ganzen Umkreis“, schildert sie. Mit der Folge, dass ihre Praxis leicht schon mal 100 Tests mit der KV abrechnete, „wo andere vielleicht drei oder vier hatten“. Während sich mancher Facharzt nicht mehr ins Haus getraut habe, sei sie unzählige Male im Altenheim gewesen, um ihre Patienten zu betreuen. Dafür werde sie am Ende finanziell bestraft. „Das muss aufhören“, stellt sie fest. Auch deshalb, weil die ständige Sorge vor Rückzahlung auch Nachwuchskräfte abhalte, sich als Hausarzt aufs Land zu wagen.
Besonders problematisch findet Thiel, dass die Regressforderungen stets erst drei bis fünf Jahre nach dem Behandlungsjahr eintrudeln. So drohten Wiederholungsfehler. Anders als früher, liege die Beweislast nun bei den betroffenen Praxen. „Das System ist zerstörerisch“, findet Thiel und fordert eine Umkehr der Beweislast. „Auf dem Land macht man das, was unbedingt nötig ist. Man hat gar keine Zeit, den Patienten unwirtschaftliche Dinge zu verkaufen.“
Verschlankung der Bürokratie ist überfällig
Vom neuen Bundeskanzler oder der neuen Bundeskanzlerin wünscht sich die Schlangenbaderin „Klugheit, Unabhängigkeit, Herzensgüte und Respekt von der Würde jedes Einzelnen“. Ideologisch unverbrämt und würdevoll hätte sie die neue Regierungsspitze gerne.
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Eine Verschlankung der Bürokratie, unter der Arztpraxen leiden, hält die Medizinerin ebenfalls für überfällig. Und eine bessere Information der Betroffenen. „Ich möchte nicht aus der Zeitung erfahren, was sich für mich ändert, sondern vom Staat oder der KV“. Um Nachwuchs aufs Land zu bekommen, müsste zudem mehr ausgebildet werden, wünscht Thiel. Jedes große Krankenhaus müsste aus ihrer Sicht 15 bis 20 Prozent Allgemeinärzte ausbilden. Dass die Hausärzte das Rückgrat des Systems seien, habe man gerade in der Pandemie gesehen. „Ich arbeite wie blöd, um meine Patienten nicht im Stich zu lassen.“
Corona, das ist für Hausärztin Dr. Sabine Thiel auch eine Krankheit in enormen Zahlen. 17 Patienten hat sie im vergangenen Winter in nur drei Wochen verloren, Altenheimbewohner in Heidenrod. 3000 Menschen in drei Monaten, oft 130 am Tag, habe sie immunisiert, allerdings dafür nur 20 Euro pro Patient erhalten. In Impfzentren habe es 150 bis 200 Euro Vergütung gegeben.