Schlechte Nachrichten: Warum Ignoranz manchmal hilft

aus Krieg in der Ukraine

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Ausblenden statt hinschauen: Das ist bei den vielen Krisen manchmal verlockend.   Fotos: imagoIMAGO/Jose Carlos IchiroChristoph Hardt

Ukraine-Krieg, Coronapandemie, Klimakrise – während manche tief in den Sog schlechter Nachrichten abtauchen, ignorieren andere sie. Aber wovon hängt es ab, was wir ausblenden?

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. Die wenigsten Menschen möchten gerne wissen, wann ihr letztes Stündlein schlägt. Es gibt schönere Dinge, als sich mit dem eigenen Todestag auseinanderzusetzen. Ein Großteil der Menschen zieht es vor, Informationen über bevorstehende negative Ereignisse zu ignorieren. Psychologen sprechen von bewusster Ignoranz, wenn Menschen Informationen meiden, die sie betreffen und ihnen sogar nützen könnten. Doch wovon hängt es ab, ob wir bestimmtes Wissen ausblenden?

Menschen suchen gezielt nach schlechten Nachrichten

Eine erste Antwort liefert eine aktuelle Umfrage: Einmal pro Jahr untersucht der Reuters Digital News Report, wie Menschen aus 46 Ländern Nachrichten nutzen. Das Ergebnis im Jahr 2022 lautet: Etwas mehr als die Hälfte der Deutschen will wissen, was in Zeitungen und auf Online-News­portalen steht. Das sind zehn Prozent weniger als im Vorjahr. Jede zehnte Person gab an, dass Nachrichten sich negativ auf ihre Stimmung auswirkten und sie deshalb auf deren Konsum verzichteten. Coronapandemie, Ukraine-Krieg, Klimakrise – die vergangenen drei Jahre haben selbst hartgesottene Leser an ihre Grenzen gebracht.

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Manche Menschen konnten das Konsumieren schlechter Nachrichten gar nicht mehr stoppen und betrieben so­genanntes Doom-Scrolling, das exzessives Lesen düsterer Nachrichten beschreibt.

Menschen speichern negative Informationen und potenzielle Gefahren besser ab und suchen auch stärker danach. Evolutionsbiologisch betrachtet, ist diese Negativitätsverzerrung ein Überlebensvorteil. Wer ständig den Säbelzahntiger fürchtet, ist besser vorbereitet.

Aber gut Informierte profitieren auch heute: Wer den Gasmangel infolge des Ukraine-Kriegs schon früh kommen sieht, investiert früh in eine Wärmepumpe. Dennoch ignorieren wir oft, was uns belastet.

Eine kanadische Studie ergab, dass jeder zehnte Erwachsene mit einer Familienvorgeschichte für die Huntington-Krankheit auf den Linkage-Test verzichtet, der diese Erbkrankheit vorhersagt. Ebenso will jeder fünfte Erwachsene in Malawi das Ergebnis eines HIV-Testergebnisses nicht wissen, selbst wenn Geld dafür bezahlt wird. Das erscheint paradox, unterliegt jedoch einer Logik.

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Gerd Gigerenzer, Psychologe Foto: imago/                  Christoph Hardt
Gerd Gigerenzer, Psychologe (© imago/ Christoph Hardt)

Wie diese aussieht, hat Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin untersucht. Für seine Studie, die in der amerikanischen Fachzeitschrift „Psychological Review“ im Jahr 2017 erschien, hat der Forscher mehr als 1000 Erwachsene in persönlichen Interviews gefragt: Würden Sie heute wissen wollen, wann ihr Partner stirbt? Das Ergebnis: Zwischen 86 und 90 Prozent der Menschen gaben an, dies nicht wissen zu wollen. Dabei hätte das Wissen Vorteile, um die verbliebene Zeit besser zu nutzen, etwa weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.

Laut Gigerenzer entscheidet das Maß der antizipierten Reue darüber, ob wir etwas wissen wollen oder eben nicht. Reue überkommt Menschen, wenn sie sich für Option A entschieden haben, um dann heraus­zufinden, dass Option B besser gewesen wäre. Je folgenreicher und komplexer das Wissen, desto schwerer die Abwägung. Elternschaft ist so ein Beispiel: In der Umfrage von Gerd Gigerenzer gaben 38 Prozent der Männer ohne Kind an, dass sie im Falle einer Vaterschaft auf einen DNA-Test bestehen würden. Unter denjenigen, die bereits Kinder hatten, sagten jedoch nur vier Prozent, tatsächlich einen Test gemacht zu haben.

Ältere meiden beunruhigende Nachrichten eher

„Das Verhalten zeigt, dass die Männer eine Abwägung treffen“, sagt Gigerenzer. So könnte die Partnerin das Bestehen auf einen Vaterschaftstest als Vertrauensbruch interpretieren. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass der Test nicht wie erwünscht ausfällt. In diesem Fall hätte dies Auswirkungen auf das Verhältnis zur Frau und dem Kind.

Liebesaffären beispielsweise haben das Potenzial, ganze Familien zu sprengen, wenn die Wahrheit zutage tritt. Je älter die Menschen sind, desto weniger wollen sie aber von Untreue erfahren und meiden brisantes Wissen.

Die Antworten werden verrechnet mit dem Nutzen, den das sichere Wissen um die Vaterschaft mit sich bringt. Überwiegt der Nutzen, wollen die Betroffenen einen Vaterschaftstest machen. Dominieren die Kosten, entscheiden sie sich gegen den Test.

Diesen Zusammenhang hat Ralph Hertwig, Psychologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, mit Kollegen in einer Studie herausgefunden, die 2021 im Fachblatt „Psychology and Aging“ erschien. Mit dem Alter verschieben sich also die Prioritäten. Laut der sozioemotionalen Selektivitätstheorie tendieren junge Menschen dazu, zukunftsorientierte Ziele an­zuvisieren. Ältere Menschen hingegen bevorzugen auf die Gegenwart gerichtete Ziele wie zum Beispiel psychisches Wohlergehen.

Es könnte also auch als Zeichen emotionaler Reife gewertet werden, bestimmte Informationen nicht verarbeiten zu wollen. „Die Vorstellung, dass ein brennender Instinkt der Neugierde uns in jeder Lebenssituation antreibt – dieser Topos des unstillbaren Wissensdurstes –, ist jedenfalls falsch“, so Hertwig. Das Verhältnis zwischen Wissen-Wollen und Nicht-Wissen-Wollen sei wesentlich komplexer. Und Letzteres hat für die Betroffenen eben auch manchmal Vorteile.

Von Nadine Zeller