Seit vielen Jahren liefern sich Befürworter und Gegner der Kinderimpfung hitzige Debatten - vor allem, weil mögliche Langzeitfolgen kaum erforscht sind.
. Schon mal von einer Masernparty gehört? Sie finden vor allem in den alternativ-hippen Stadtteilen größerer Metropolen Deutschlands statt. Sinn dieser Zusammenkünfte ist es, dass ein Masernpatient gesunde Kinder angesteckt – gezielt. Manche Impfgegner sind von den Vorteilen eines Überwindens dieser Krankheit überzeugt. Als Körperverletzung bezeichnen es hingegen viele Ärzte. Nach dem Tod einer Masernpatientin im Mai in Essen sind die Rufe nach einer Impfpflicht wieder lauter geworden.
"Nach der Hälfte der Autofahrt anschnallen"
„Natürlich können Sie eine abgespeckte Variante des Impfprogramms für Ihr Kind wählen, dann können Sie es aber auch erst nach der Hälfte der Autofahrt anschnallen“, sagt Dr. Christoph von Buch, Chefarzt der pädiatrischen Abteilung und ärztlicher Direktor des Krankenhauses Kreuznacher Diakonie. Der Satz zeigt: Wenn es um Impfen oder Nicht-Impfen geht, werden Ärzte gerne mal extrem.
Katharina Maler (Name geändert) ließ ihren zweieinhalb Jahre alten Sohn dennoch bislang nicht impfen. Alexander hat Hautprobleme. Außerdem wurde er mit übereinander geschobenen Schädelplatten geboren. „Gerade bei den kleinen Babys gelangen die Wirkstoffe ungehindert ins Hirn, das wollte ich ihm nicht auch noch antun“, argumentiert die junge Mutter. Sie hat große Zweifel, was mögliche Impfschäden betrifft. „Ich meine damit das weniger Sichtbare: Allergien, Hautreizungen oder eine Anfälligkeit für Krankheiten, die vielleicht erst Jahre später auftauchen“, betont Maler. Keiner wisse, ob diese mit Impfungen zusammenhängen, meint sie.
Zum Schutz der Gesellschaft
Von Buch vertritt hingegen die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko), mit der ersten Impfung im Alter von acht Wochen zu beginnen. „Bei einem einzigen Atemzug kommt ein Baby mit hunderten von Erregern in Kontakt. Das ist gut und wichtig. Aber wehe, ein falscher ist dabei“, betont der Kinderarzt. Rotznase, Erbrechen und Husten bei kleinen Kindern seien zwar wichtig für die Immunologie, erklärt von Buch. „Trotzdem versuchen wir, vor einigen relevanten Krankheiten zu schützen.“ Sobald die mütterlichen Abwehrstoffe mit etwa einem Jahr nachließen, sei es sinnvoll, ein Kind gegen Masern impfen zu lassen. Laut von Buch sind Infektionskrankheiten wie die Masern oder Diphterie noch immer eine reale Bedrohung, wenngleich sie dank der Impfungen nicht mehr so im Fokus der Öffentlichkeit stünden.
„Sicher gibt es Nebenwirkungen. Wir kitzeln das Immunsystem, also reagiert es“, erklärt er weiter. Auch Impfschäden, also längerfristige Folgen, seien möglich. Doch sei es schwer, zu unterscheiden, ob eine Impfung ursächlich für andere Beschwerden sei oder bloß zufällig zeitgleich stattgefunden habe.
Zwischen Herdenschutz und Individuum
„Die Überlegungen der Stiko drehen sich nur mittelbar um das Individuum. Sie drehen sich mehr darum, was für eine Gesellschaft mit rund 85 Millionen Menschen sinnvoll ist“, erklärt von Buch und bringt damit das Thema Herdenschutz auf den Punkt. Viele der im Programm empfohlenen Impfungen dienen nämlich dem Schutz von Risikogruppen. „Röteln sind für Kinder und Erwachsene harmlos, für Schwangere eine Katastrophe“, erklärt von Buch. Ein Herdenschutz besteht aber erst, wenn mindestens 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.
Ein gutes Beispiel ist auch der Keuchhusten. Der sei besonders für Neugeborene lebensbedrohlich, die aber selbst nicht geimpft werden könnten. Deswegen sei es in vielen Fällen wichtig, dass solche Krankheiten gar nicht erst an die Säuglinge herangetragen würden, erklärt von Buch.
„Eine Studie in den Niederlanden hat gezeigt, dass Babys genauso häufig an Keuchhusten leiden, wie es der Fall war, bevor es die Impfung gab“, sagt hingegen Dr. Martin Hirte aus München, Kinderarzt und Autor des Buches „Impfen – Pro und Contra“. Weil auch geimpfte Menschen den Keuchhusten übertragen könnten, gehe das Konzept des Herdenschutzes bei dieser Krankheit nicht auf. Man denke nun über die Impfung der Mutter noch während der Schwangerschaft nach und hofft so, auch die Neugeborenen immun dagegen machen zu können. Es fehlten allerdings Untersuchungen, die zeigen, dass dies auch langfristig für das Kind unschädlich ist.
Beliebig lange Liste kontroverser Themen
Eine andere Problematik sieht Hirte im Nachrücken von Bakterienstämmen, die nicht im Impfstoff berücksichtigt sind. „Die Besiedlung des Rachenraums etwa mit Pneumokokkenerregern ist trotz Impfung annähernd gleich geblieben, lediglich die Stämme haben gewechselt“, erklärt Hirte. Die Auflistung von Krankheitsbildern und Erregern, die Impfkritiker und Impfbefürworter völlig unterschiedlich bewerten, ließe sich beliebig fortführen.
Kinderarzt verlangt individuellere Beratung
Studien in Australien und Kanada hätten hingegen ergeben, dass etwa die Verschiebung des ersten Impftermins den Ausbruch von Neurodermitis oder Asthma gesenkt habe. Weniger Infekte und eine niedrigere Sterblichkeit vor allem bei Babys hätten sich bei ungeimpften Kindern in Afrika gezeigt. „Allergien sind nicht umsonst auf dem Vormarsch“, sagt Hirte. Mit acht Wochen könne das Immunsystem infolge einer Impfung in eine Schieflage geraten. Da das frühkindliche Immunsystem eher mit Abwehrzellen arbeite und die Ausscheidung von Antikörpern erst noch in Schwung kommen müsse, sei die Provokation der Antikörperbildung durch Impfungen in diesem Alter unphysiologisch.
„Die Bildung von Abwehrzellen wird dadurch gestört und die Kinder werden infektanfälliger“, sagt Hirte. Der Kinderarzt lehnt das Impfen also nicht per se ab, sondern hinterfragt eher den Zeitpunkt. Er verlangt eine individuellere Beratung durch die Kinderärzte. Dafür müsste auch den Ärzten der Rücken gestärkt werden. „Rät ein Arzt von einer Impfung ab und es passiert etwas, landet er vor Gericht. Impft er und es passiert etwas, dann haftet der Staat“, schildert Hirte die juristische Schieflage. Hinzu kommt: Ein wichtiger Teil des Umsatzes in Kinderarztpraxen werde durch die Impfungen geleistet. Umso höher die Wirkstoffe kombiniert seien, desto mehr zahlten die Krankenkassen, berichtet Hirte. Ganz zu schweigen davon, dass Impffortbildungen häufig von den Impfstoffherstellern gesponsert würden. Nach Unabhängigkeit klingt das nicht.
Weitere Studien zu Langzeitfolgen erforderlich
Der Kindermediziner Professor Markus Knuf von den Dr. Horst-Schmidt-Kliniken in Wiesbaden beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Impfen und sagt: „Ich bekomme kein Geld von Impfstoffherstellern und sehe das Thema nicht schwarz-weiß.“ Knuf räumt ein, dass es in einzelnen Fällen zu Impfschäden kommt. Er geht aber davon aus, dass dies weniger oft geschieht, als von Impfgegnern behauptet wird. Knuf sieht die Impfgegner als kleine Gruppe, die keineswegs für die Mehrheit der Gesellschaft steht. Dennoch befürwortet er weitere Studien, um die Langzeitfolgen von Impfungen zu erforschen. Seine Forderung: Alle körperlichen Beschwerden nach Impfungen sollten sofort untersucht und zentral erfasst werden. Bisher sei das nicht der Fall.
95 Prozent der Gesellschaft sind geimpft und eines sollte allen klar sein: Die Entscheidung für oder gegen eine Impfung betrifft selten nur uns allein, sondern sie schützt in den meisten Fällen die schwächeren Teile der Gesellschaft.