Wenn Kinder töten – viele Fragen zum Mordfall Luise

aus Der Fall Luise

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Blumen und Kerzen wurden am Fundort des getöteten Mädchens Luise niedergelegt.

Gibt es mehr Gewalt unter Kindern als früher? Was passiert mit den geständigen Mädchen? Ist die Grenze für Strafmündigkeit zu niedrig angesetzt? Fragen und Antworten.

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Mainz/Freudenberg. Der gewaltsame Tod der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg wühlt die Menschen auf. Das liegt auch an den besonderen Umständen des Verbrechens. Alles spricht dafür, dass Luise von zwei zwölf und 13 Jahre alten Mädchen erstochen wurde, jedenfalls haben die beiden verdächtigten Kinder die Tat gestanden, und die Behörden halten die Geständnisse für plausibel. Weil die beiden mutmaßlichen Täterinnen noch nicht strafmündig sind, werden sie sich nicht juristisch verantworten müssen. Daraus ergeben sich Fragen: Was passiert mit den Mädchen jetzt? Ist die Altersgrenze für Strafmündigkeit angemessen, wieso liegt sie bei 14 Jahren? Wie oft kommt es vor, dass Kinder anderen Kindern tödliche Gewalt antun?

Mordfall Luise: Das Jugendamt ist jetzt am Zug

Wie ist der Stand der Ermittlungen?

Die zwölfjährige Schülerin Luise F. aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg im Siegerland war am Samstagabend von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden, weil sie nach dem Besuch einer Freundin nicht nach Hause kam. Am Sonntag fand die Polizei die Leiche des Mädchens im Wald in einem Böschungsbereich auf rheinland-pfälzischem Gebiet nahe der Landesgrenze. Die Obduktion ergab, dass Luise mit zahlreichen Messerstichen am Fundort der Leiche getötet worden war. Bei den Ermittlungen gerieten zwei Mädchen ins Visier der Polizei, weil sie sich bei einer ersten Befragung in Widersprüche verwickelt hatten. Bei einer nochmaligen Anhörung im Beisein von Erziehungsberechtigten und Psychologen gestanden sie die Tat. Zu den Motiven der mutmaßlichen Täterinnen machen die Behörden keine Angaben. Beide Mädchen waren der Polizei zuvor noch nicht aufgefallen, sie sollen mit dem Opfer bekannt gewesen sein. Nach der Tatwaffe wurde auch am Mittwoch noch gesucht.

Warum müssen sich die beiden Tatverdächtigen nicht juristisch verantworten?

Kinder, die noch keine 14 Jahre alt sind, wenn sie ein Verbrechen begehen, sind nach deutschem Recht schuldunfähig. Denn es wird davon ausgegangen, dass sie die Folgen ihres Handelns noch nicht ausreichend überblicken. Deshalb werden Kinder selbst bei einem Tötungsdelikt nicht strafrechtlich verfolgt. Bei aufsehenerregenden Fällen wird deshalb oft gefordert, das Alter für die Strafmündigkeit abzusenken. Auch nach geltender Rechtslage ist es aber nicht so, dass die Tat keine Konsequenzen hätte. Die Polizei ermittelt trotzdem – etwa, um zu klären, was genau passiert ist und ob möglicherweise ältere, strafmündige Menschen an der Tat beteiligt waren. Allerdings sind diese Ermittlungen im konkreten Fall wohl weitgehend abgeschlossen. „Wir legen diesen Fall jetzt in die Hände der Jugendbehörden“, sagte Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler am Dienstag bei der Pressekonferenz in Koblenz. 

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Blumen am Fundort der getöteten Zwölfjährigen Luise.
Mitarbeiter des Ordnungsamtes in Freudenberg stehen vor dem Schulzentrum des ermordeten Mädchens.
Polizisten suchen in der Nähe des Fundorts der getöteten Luise nach weiteren Hinweisen.
Die Polizei hat den Fundort der Leiche weiträumig abgesperrt.

Wie geht es für die beiden tatverdächtigen Mädchen weiter?

Sie leben vorerst nicht mehr bei ihren Eltern, sondern seien „außerhalb des häuslichen Umfeldes untergebracht“, teilte der zuständige Kreis Siegen-Wittgenstein am Mittwoch mit. Auch würden sie ihre bisherigen Schulen nicht besuchen. Die Mädchen hätten aber weiterhin Kontakt zu ihren Eltern. „Der Kontakt zur Familie ist aufgrund des jungen Alters der Mädchen sehr bedeutsam und wird insofern unterstützt“, teilte der Kreis mit. Auch für die beiden Tatverdächtigen handele es sich um eine „ganz außergewöhnliche Situation, die viel Empathie und umsichtiges Agieren erfordert“, sagte Kreis-Jugenddezernent Thomas Wüst der Nachrichtenagentur dpa.

Was ist die Aufgabe des Jugendamts?

Es bietet der Familie Unterstützung an, leuchtet das soziale Umfeld der Mädchen aus und geht der Frage nach, wie es zur Tat kommen konnte. Sollten psychologische Faktoren eine Rolle gespielt haben, kann eine Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen. Möglich ist auch, dass die Mädchen eine Zeit lang in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie untergebracht werden. Die rechtlichen Hürden für eine Trennung von den Eltern gegen deren Willen sind aber hoch. Der Konfliktforscher Andreas Zick hält Therapieangebote für die Angehörigen des Opfers, aber auch für die mutmaßlichen jungen Täterinnen für nötig. Grundsätzlich bräuchten Kinder, die getötet haben, „eine intensive und lange psychologische Betreuung und ein Therapieangebot, ebenso wie die Angehörigen der Opfer dies auch brauchen”, sagte der Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld dem Evangelischen Pressedienst. 

Einige wenige spektakuläre Einzelfälle

Wie oft begehen Kinder unter 14 Jahre Verbrechen?

Sie werden sehr selten als Tatverdächtige im Bereich Gewaltkriminalität registriert. Darunter fällt etwa gefährliche und schwere Körperverletzung, sexueller Missbrauch, Körperverletzung mit Todesfolge, Totschlag und Mord. 2021 ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich laut Kriminalstatistik gegenüber dem Vorjahr angestiegen (7477 zu 7103). Doch ein Trend nach oben lässt sich daraus nicht ablesen: Verglichen mit 2019 gab es 2021 einen Rückgang von rund zehn Prozent. Bei den Tötungsdelikten schwankt die Zahl der tatverdächtigen Kinder seit 2000 jährlich zwischen 4 und 21. Zuletzt hat ein Mord im niedersächsischen Salzgitter Aufsehen erregt, an dem ein Kind beteiligt war: Ein 14-Jähriger und ein nicht strafmündiger 13-Jähriger erstickten im Juni 2022 eine 15-jährige Jugendliche. 2016 schlug ein 13-Jähriger in Bad Schmiedeberg (Sachsen-Anhalt) einen gleichaltrigen Jungen mehrfach so heftig gegen den Kopf, dass dieser starb.

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In den USA beginnt die Strafmündigkeit teilweise schon mit sechs Jahren

Gibt es einen Trend zu mehr Gewalttätigkeit unter Kindern und Jugendlichen?

Nein, betont Thomas Bliesener, Direktor am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. „Es gab einen Gipfel zu Beginn der 2000er Jahre, seitdem hat sich die Zahl der Gewalttaten, die von Jugendlichen, insbesondere von Kindern begangenen werden, erkennbar reduziert“, sagte Bliesener der „Süddeutschen Zeitung“. Dass auch Mädchen zu Täterinnen werden, überrascht den Forscher nicht. Zwar sei körperliche Gewalt „eine Domäne des männlichen Geschlechts“, jedoch sei der Unterschied mit zwölf oder 13 Jahren zwischen den Geschlechtern noch nicht so ausgeprägt. Es gebe durchaus Mädchen, die körperlich aggressiv würden – „möglicherweise, weil sie Jungen in dem Alter noch eher gewachsen sind“.

Konfliktforscher: Entscheidend ist es, die Tat zu verstehen

Sollte die Altersgrenze zur Strafmündigkeit abgesenkt werden?

Konfliktforscher Andreas Zick rät davon ab. Es sei gefährlich, Kinder vor dem Gesetz zu früh zu Jugendlichen zu machen. „Das würde bedeuten, ihnen Strafen aufzubürden, die sie vielleicht nicht verstehen, und die ihnen auch nicht helfen.” Zentral in Fällen wie Freudenberg sei die genaue Diagnostik, also die Frage, ob hier Entwicklungsverzögerungen vorliegen. Darüber hinaus sollte untersucht werden, was es heiße, wenn sich Kinder mediale Gewaltfantasien zur Vorlage nähmen. „Der Ruf nach Strafe sollte nach dem Verstehen der Tat kommen und nicht umgekehrt”, mahnt Zick. Der frühere Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg, betonte, die beiden mutmaßlichen Täterinnen von Freudenberg stünden am Anfang ihres Lebens. „Auch wenn sie moralisch sehr schwere Schuld auf sich geladen haben, muss man ihnen jetzt nicht das gesamte Leben verbauen.” Bei Kindern stehe nicht die Bestrafung, sondern die Erziehung und Entwicklung im Vordergrund, sagte der Kriminologe aus Wiesbaden. „Das bedeutet aber nicht, dass die Tat ohne Konsequenzen bleibt.”

Wo liegt die Grenze der Strafmündigkeit in anderen Ländern?

International sind die in Deutschland geltenden 14 Jahre eher hoch. Sie gelten zum Beispiel auch in Österreich und in Russland. In der Schweiz beginnt die Strafmündigkeit mit der Vollendung des zehnten Lebensjahres, ebenso in Großbritannien. In den USA, wo es immer wieder Tötungsdelikte von Kindern mit Schusswaffen gibt, ist es sehr unterschiedlich. Feste Grenzen gibt es nur in 15 Bundesstaaten, sie reichen von sechs bis zwölf Jahren; auf Bundesebene sind es zehn Jahre. Nach einer UN-Empfehlung aus dem Jahr 1985 sollte das Mindestalter für die Strafmündigkeit nicht unter 12 Jahren liegen. Auch in Deutschland begann die Strafmündigkeit einmal früher: Sie wurde 1923 in der Weimarer Republik mit dem neu erlassenen Jugendgerichtsgesetz von 12 auf 14 Jahre angehoben.