Gastkommentar von Michel Friedman zur modernen Gesellschaft
Von Michel Friedman
Michel Friedman.
(Foto: Nicci Kuhn)
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In unserem Land gibt es die Sehnsucht nach der Quadratur des Kreises. Einerseits, dass Politik konkret nachvollziehbar, aber vor allen Dingen konsequent ist. Was Politik denkt, was Politik sagt, soll auch in Handlungen erkennbar sein. Andererseits wünschen sich Menschen, dass Politikentwürfe nicht nur pragmatisch, sondern auch dogmatisch erzählt werden. Ob das die gerechte Gesellschaft, die saubere Umwelt, der Pazifismus, die moderne aufgeklärte Gesellschaft ist. All diese Politikfelder sollen nicht durch Realpolitik verwischt werden, sondern in eindeutiger Konsequenz sichtbar werden.
Das Prinzip „Entweder/oder“ kann allerdings nur funktionieren, wenn eine Partei die absolute Mehrheit im Parlament hat. Koalitionen arbeiten dank Kompromissen. Demokratie kann nur in immer wiederkehrenden Kompromissen die vielen Unterschiede und Bedürfnisse einer Gesellschaft zusammenhalten. Dass Kompromisse bei den Vertretern des „Nur wir haben recht“ zu Frustrationen führt, ist evident. In einer Gesellschaft, die einerseits noch nie so informiert war wie jetzt, sich aber andererseits so desinformiert fühlt wie heute, erkennt man ein weiteres Problem. Dass all das Übel dieser Welt der Globalisierung und Digitalisierung geschuldet sei, ist einerseits eine nachdenkenswerte Argumentation, andererseits eine simplifizierte Entlastung.
Es stimmt, dass wir nach der industriellen Revolution mit der digitalen Revolution einen Umbau nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auf allen Feldern unseres Lebens erleben. Es stimmt, dass dadurch auch auf Arbeitnehmerseite Veränderungen und Gefahren entstehen. Es stimmt aber auch, dass neue Berufe mit neuen Arbeitsplätzen entwickelt werden. Es stimmt nicht, dass deswegen eine Entlassungs- und Armutswelle vor der Tür steht. Dass deswegen die Reichen noch reicher werden und der gesellschaftliche Frieden deutlich gestört sein wird. Es stimmt, dass das Phänomen, dass wir bis vor wenigen Jahren (nicht nur in Deutschland) als Volksparteien bezeichnet haben, (nicht nur bei uns) zu Ende geht. Gewinner sind neue Parteien, die Einzelthemen in ihren Mittelpunkt stellen. Dadurch werden die Großen kleiner und die Kleinen größer. Und es stimmt, dass demokratiefeindliche und menschenverachtende Parteien in den liberalen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie so viele Erfolge verbuchen konnten wie jetzt.
UNSER GASTAUTOR
Michel Friedman ist Jurist, Politiker, Publizist und Fernsehmoderator. Für ihn hängt das Überleben der Gesellschaft von der Fähigkeit ab, sich neuen Gegebenheiten anzupassen.
Die Sehnsucht der Wähler nach der Quadratur des Kreises, dass einerseits alles so bleibt wie bisher oder sogar wieder wird wie „in den guten alten Zeiten“ und andererseits in der Moderne anzukommen und von ihr nicht abgehängt zu werden, ist nicht umsetzbar. Das Überleben von Gesellschaften, von der Menschheit an sich, hängt von der Fähigkeit ab, sich neuen Gegebenheiten anzupassen, optimal zu lernen, Realitäten optimal umzusetzen.
Die Welt, in der wir im 21. Jahrhundert leben, ist grenzenloser geworden. Diese Welt hat Europas und Amerikas Wirtschaft etwas entgegenzusetzen. Es stimmt, dass wir uns deswegen noch mehr anstrengen müssen, die junge Generation viel besser als bisher ausbilden müssen und den Wettbewerb annehmen müssen, statt uns wehleidig zu beklagen. Die Welt, in der wir heute leben, ist geprägt von einer pluralen, bunten Gesellschaft. Wir können nicht mehr blind sein gegenüber den Ungerechtigkeiten, die wir bei armen und ärmsten Ländern in der Welt mitverursacht haben, immer noch verursachen, weswegen wir Verantwortung übernehmen müssen. In der Welt, in der wir leben, können wir nicht verdrängen, dass wir bereits ein bis zwei Jahrzehnte verloren haben, um die Verhandlung zu führen, in welcher Welt wir eigentlich in Zukunft leben wollen. Um uns zu vergewissern, was wir eigentlich unter Demokratie und Werten für uns und unsere Kinder meinen.
In dieser Welt können wir uns nicht mehr die Hände in Unschuld waschen. Weil wir die Behauptung „Wir haben es nicht gewusst“ nicht mehr verwenden können. Und in der Welt, in der wir leben, können wir nicht so tun, als ob das Delegieren von Politik an Politiker und Politikerinnen ausreicht. Es geht um uns. Es liegt an uns.