Ärzte in Deutschland erhalten jetzt konkrete Empfehlungen, wie sie entscheiden sollen, wenn bei der Behandlung von Covid-19-Patienten Intensivbetten und Beatmungsgeräte knapp werden.
Von Alexandra Eisen
Stellvertretende Chefredakteurin VRM zentral
Coronavirus.
(Grafik: CROCOTHERY - stock.adobe)
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BERLIN / MAINZ / TRIER - In italienischen Kliniken ist Alltag geworden, was sich hierzulande niemand vorstellen kann und auch nicht vorstellen will: Ärzte müssen entscheiden, welchen Corona-Patienten angesichts zu weniger Intensivbetten und Beatmungsgeräte, zu weniger Ärzte und Pfleger, geholfen wird und welchen nicht.
„Ich bin in eine Lage gekommen, die unmenschliche Entscheidungen verlangt. Man kann nicht wählen, wer leben darf und wer nicht“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung jüngst die Krankenhausärztin Francesca Mangiatordi aus der norditalienischen Stadt Cremona. Die Verzweiflung ist nachvollziehbar, aber dennoch gilt: Ärzte können und sie müssen genau diese Entscheidungen treffen, wenn in einem Katastrophenfall oder in einer Pandemie solchen Ausmaßes bei der Behandlung und Versorgung von Patienten Prioritäten gesetzt werden müssen. Der Fachbegriff dafür heißt „Triage“. Er leitet sich aus dem französischen Wort „trier“ ab. Übersetzt heißt das „sortieren“. Die Triage regelt die Einteilung von Patienten.
Unimedizin Mainz arbeitet bereits an konkreter Umsetzung
Dafür braucht es ethische Leitlinien. Während in Österreich und in der Schweiz angesichts der Pandemie bereits längere Zeit ethische Empfehlungen zur Triage und Versorgung von Covid-19-Patienten in Kliniken veröffentlicht worden sind, sind diese in Deutschland in dieser komprimierten Form erst am Donnerstag von Intensivmedizinern, Notfallmedizinern, Pallitivmedizinern und Medizinethikern gemeinsam vorgelegt worden. Das Grundsatzpapier unter Leitung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz DIVI, formuliert nun einen Rahmen für Deutschland.
Triage:
• Der Fachbegriff für die Auswahl von Patienten, die bei Ressourcenknappheit zuerst behandelt werden sollen, heißt „Triage“.
• Er leitet sich aus dem französischen Wort „trier“ ab. Übersetzt heißt das „sortieren“.
• Das System kommt aus der Militärmedizin. Ende des 18. Jahrhunderts fanden sich im „Königlich-Preußischen Feldlazareth-Reglement“ erste Angaben, wie Verwundete nach Schweregraden eingeteilt werden sollten. Unter Napoleon I. entwickelte der Militärchirurg Dominique Jean Larrey „fliegende Lazarette“: Die Verwundeten wurden auf dem Schlachtfeld nach der Schwere ihrer Verletzungen sortiert und, wenn nötig, vor Ort behandelt.
An der Universitätsmedizin Mainz geht es bereits um die konkrete klinische Umsetzung der Empfehlungen. Die Experten am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und im Klinischen Ethikkomitee haben in den vergangenen Tagen mit Hochdruck daran gearbeitet und werden sie am heutigen Freitag vorstellen.
Das Mainzer Institut unter der Leitung von Prof. Dr. Norbert W. Paul ragt im Bereich der klinischen Ethik mit seinem 26-köpfigen Ethik-Komitee und der Forschung, Aus- und Weiterbildung in Deutschland heraus. Nun hofft Paul, dass die Mainzer Strategie zur Umsetzung nicht nur den eigenen Medizinern mehr Sicherheit bei der Behandlung von Covid-19-Patienten geben, sondern auch auf nationaler Ebene als Blaupause für andere Kliniken dienen wird, um das Papier der DIVI in die konkrete, klinische Praxis umzusetzen. Denn auch das tritt in der aktuellen Situation deutlich zutage: Klinische Ethik ist noch längst nicht überall in der erforderlichen, professionellen Form etabliert.
Eine erste Form dieser Sortierung erlebt Deutschland bereits. Geplante Operationen werden derzeit in zahlreichen Krankenhäusern abgesagt oder verschoben, um Kapazitäten für Corona-Patienten freizuhalten und das System nicht zu überlasten. In dieser Größenordnung ein Novum, das von den Bürgern bislang relativ klaglos hingenommen wird. Schon bei diesen Entscheidungen spielten ethische Erwägungen eine Rolle, sagt Medizinethiker Paul. „Welche Operation ist aufschiebbar und mit welchen Folgen? Ich kann bei einem vereiterten Kiefer den Eingriff aufschieben und erst einmal Medikamente einnehmen, aber in der Folge können die Knochen angegriffen oder Nerven geschädigt werden. Das ist sicherlich unerwünscht und entspricht nicht dem normalen Vorgehen – aber ich kann damit natürlich weiterleben“, nennt er ein Beispiel.
Ein weiterer erster Triage-Schritt ist der Schutz des medizinischen Personals. Auch dies ist Teil der Mainzer Leitlinien. „Ärzte und Pflegepersonal müssen geschützt werden, damit sie überhaupt arbeiten können, dazu braucht es ausreichend Schutzkleidung, Verhaltensregeln, mitunter einen verstärkten Sicherheitsdienst auf dem Gelände, wie dies vom Vorstand der Universitätsmedizin vorausschauend eingeführt wurde“, sagt Paul.
Bislang ist die Triage in Deutschland vor allem aus der Notfallmedizin, bei sogenannten Massenanfällen von Verletzten oder in Katastrophen-Szenarien bekannt. Dann geht es darum, welche Verletzten zuerst wie versorgt werden, wer warten muss, wer in welche Klinik kommt. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zur aktuellen Situation. „Nach der Priorisierung am Katastrophenort werden die Patienten in Krankenhäuser verbracht und erhalten dort die bestmögliche und erforderliche Versorgung nach aktuellem Standard. Das ist eine zeitlich begrenzte oder gar punktuelle Triage“, sagt der Institutsleiter.
Ungleich schwerer die Abwägungen, die aktuell in Italien erfolgen: Welches Leben soll gerettet werden? Welcher Covid-19-Patient hat die meisten Aussichten, nach einer Behandlung entsprechend seines Alters wieder ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen? „Wenn es in Deutschland so weit käme, würde kein Arzt mit einer solchen Entscheidung allein gelassen. Das wären immer Einzelfallentscheidungen, an der ein Ethik-Komitee beteiligt sein sollte“, sagt Paul. Klar sei auch, und dies ist Teil der DIVI-Leitlinien: „Es gibt ein Diskriminierungsverbot. Allein das Alter eines Patienten ist zum Beispiel kein gutes Kriterium.“
Deutlich wird nun, dass sich in der Corona-Krise der Blickwinkel der Mediziner bei ethischen Entscheidungen verschiebt. „In der Regel erfolgt die Entscheidung im persönlichen Verhältnis von Arzt zu Patient. Wir fragen, ob eine Operation oder eine lebenserhaltende Maßnahme im konkreten Fall sinnvoll und zumutbar ist, ob Leid gelindert oder verlängert wird“, erklärt der Medizinethiker. Bei der Priorisierung während einer Pandemie gehe es aber um das öffentliche Verhältnis und die Frage: Wie können möglichst viele Leben gerettet werden?
Für Prof. Norbert W. Paul ist die Antwort auf diese Frage alles andere als einfach aber dennoch möglich, wenn medizinisches Personal entsprechende Leitlinien und Unterstützung erhält. Und wenn diese in den ersten Schritten konsequent darauf ausgerichtet sind, diese letzte schwere Entscheidung so lange wie möglich zu verhindern. Dazu gehörten auch die Einschränkungen im Alltag und sozialen Leben, die aktuell von den Bürgern verlangt würden. „Das“, sagt Paul, „muss jedem klar sein.“