In der Flüchtlingsunterkunft des Kreises an der Hessenhalle Alsfeld ist noch viel Platz. Woran das liegt und wie die Fraktionen im Kreistag die Lage beurteilen.
Vogelsbergkreis. Das in Hessen für die Verteilung von Geflüchteten zuständige Regierungspräsidium Darmstadt hat seine Prognose zur Aufnahme von Geflüchteten im Vogelsbergkreis gesenkt. Statt zuvor 35 Menschen, seien wöchentlich im ersten Quartal des Jahres „nur“ noch 17 Menschen aufzunehmen, teilt die Behörde gegenüber unserer Redaktion mit.
Am 12. Dezember hatte der Vogelsberger Kreistag mehrheitlich einen Hilferuf Richtung Wiesbaden und Berlin verabschiedet. Hintergrund der Resolution war, dass man sich bei der Aufnahme und Betreuung von Geflüchteten an den Kapazitätsgrenzen sah, einen Kostenausgleich von Bund und Land forderte. Allerdings war das Ankunftszentrum des Vogelsbergkreises an der Alsfelder Hessenhalle am Donnerstag vor einer Woche noch nicht mal zur Hälfte belegt. Und das, obwohl der Landrat Anfang November noch davon ausging, dass auch diese Unterkunft bis Mitte Januar voll sein könnte. Wie erklären sich also die Belegungszahlen? Sind in den vergangenen Wochen nicht so viele Geflüchtete im Vogelsbergkreis angekommen, wie angenommen?
Doch, sagt der Landkreis. Jedoch habe die Zahl der Flüchtlinge aus anderen Ländern der Welt abgenommen, die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine zugenommen. Weil der Kreis die Aufnahme von Ukrainern an die Kommunen delegiert hat, kommen sie in den Notunterkünften in den Vogelsberger Städten und Gemeinden unter. Geflüchtete aus anderen Ländern wie Syrien oder Afghanistan im Containerdorf des Kreises, dem Ankunftszentrum an der Hessenhalle.
Dass die Anzahl der ukrainischen Flüchtlinge in den vergangenen Wochen wieder stark angestiegen ist, ist auch aus den Reihen der Bürgermeister zu hören. Der Kreis verteile diese systematisch auf die Notunterkünfte der Kommunen. In den Monaten zuvor sei ein konstanter Rückgang verzeichnet worden, was sich nun gerade wieder ändere. Monatelang habe man – wenn überhaupt – nur sehr wenige aufnehmen müssen, was sich jetzt aber wieder anders darstelle. Die Aufnahmekapazitäten seien da, weil es in vielen Kommunen gelungen sei, die Flüchtlinge in private Unterkünfte zu vermitteln.
Wieder mehr Ukrainer
Mit wie vielen Flüchtlinge der Vogelsbergkreis pro Woche rechnet und wie viele er aufnehmen muss, erfährt der Landkreis vom Regierungspräsidium Darmstadt (RP). Das ist für die Verteilung der Geflüchteten in Hessen zuständig. Für das vierte Quartal 2022 habe das RP dem Landkreis eine Zuweisung von 35 Menschen pro Woche und somit gut 400 insgesamt mitgeteilt, heißt es aus der Kreisverwaltung. Deshalb habe der Vogelsbergkreis mit 35 Personen pro Woche kalkuliert. Eine Annahme, die so offenbar auch eingetreten ist: „Es wurden auch circa 35 Personen pro Woche zugewiesen.“ Seien Anfang des vierten Quartals 2022 jedoch noch circa drei bis fünf Flüchtlinge aus der Ukraine und 30 bis 32 aus dem Rest der Welt gekommen, seien die Zuweisungen im weiteren Verlauf zu fast 50 Prozent Menschen aus der Ukraine gewesen, erklärt der Landkreis. „Da der Vogelsbergkreis die Flüchtlinge aus der Ukraine den Städten und Gemeinden direkt in die dortigen Notunterkünfte zuweist, musste der Platz im Ankunftszentrum nicht in der geplanten Kapazität ausgeschöpft werden.“
Dass das Containerdorf an der Hessenhalle bislang nicht voll ist – wie noch im November angenommen – ist für die Mehrheit der Vogelsberger Politik aber kein Grund, die verabschiedete Resolution infrage zu stellen.
„Namens der CDU-Fraktion kann ich nur unterstreichen, wie nötig eine klare Positionierung des Vogelsbergkreises war und weiterhin ist“, sagt der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im Kreisstag, Stephan Paule. Für ihn zeigen die Schwankungen bei den Flüchtlingszahlen, „wie wenig planbar die notwendigen Maßnahmen zur Aufnahme der Menschen sind“. Die Dimensionierung der Vogelsberger Notunterkunft sei aufgrund der im Herbst von Bund und Ländern prognostizierten Zahlen erforderlich gewesen. „Es wäre seitens der Kreise pflichtvergessen gewesen, eigenmächtig kleiner zu dimensionieren. Gerade deshalb gilt, dass die Kosten für die Unterbringung zu 100 Prozent übernommen werden müssen, damit die Kreise nicht unter ihrer eigenen Pflichterfüllung leiden müssen.“ Die Kommunen dürften seitens des Bundes und der Länder nicht alleingelassen werden, fordert Paule erneut ein.
Das sieht auch der SPD-Vorsitzende im Vogelsbergkreis so. „Auch wenn aktuell etwas weniger Geflüchtete in der Zuständigkeit des Kreises ankommen, ist eine solche Aufgabe ohne Eingreifen von Land und Bund und einer 100-prozentigen Kostenübernahme nicht dauerhaft zu stemmen“, sagt Patrick Krug. Die auf Initiative der Kreiskoalition beschlossene Resolution des Kreistags sei nicht alarmistisch gewesen, sondern angesichts der tatsächlichen Situation vielmehr weiterhin richtig. Denn der Kreis müsse Unterbringungsmöglichkeiten so vorhalten, dass er die vom Land prognostizierte Zuweisung aufnehmen kann. „Außerdem hat der Kreis derzeit bereits über 1600 geflüchtete Menschen unterzubringen und zu versorgen. Das alles braucht Personal, Platz und viel Geld.“
Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Mario Döweling steht weiter hinter der verabschiedeten Resolution und sieht den Bund in der Pflicht: „Für uns bleibt es Aufgabe der Bundesregierung im Rahmen eines EU-Gipfels endlich auf eine europäische Lösung der gesamten Flüchtlingsfrage zu drängen. Und letztlich muss der Bund auch die Kosten für die Unterbringung der Menschen in der Kommune tragen – und zwar in vollem Umfang.“ Aus Döwelings Sicht war es „durchaus richtig, seitens der hauptamtlichen Kreisspitze auf die Kapazitätsgrenzen der Kommunen hinzuweisen, deshalb haben wir die entsprechende Resolution im Kreistag auch unterstützt. Auch unsere Quellen in zuständigen Behörden und so weiter haben vor Weihnachten einen stetigen Zustrom auf hohem Niveau prognostiziert.“ Man sollte froh sein, dass dies zunächst nicht so eingetreten sei, damit den Menschen geholfen werden könne und man Herr der Lage bleibe.
„Anliegen ist richtig, aber...“
Ähnlich fällt auch die Einschätzung des Fraktionsvorsitzenden der Linken/Klimaliste, Dietmar Schnell, aus, obwohl seine Fraktion gegen die von SPD und CDU vorgeschlagene Resolution gestimmt hat: „Wir hielten und halten das Anliegen der Resolution für richtig, der Bund und das Land sollten die finanziellen Lasten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung geflüchteter Menschen in vollem Umfang tragen. Daran hat sich nichts geändert.“ Auch wenn derzeit die Situation vergleichsweise entspannt sei, könne sich dies kurzfristig ändern. „Mittel- und langfristig werden die sich verschärfenden Krisen – Umwelt, Klima, Kriege und anderes – aber auf jeden Fall zu einer Zunahme der Flüchtlingszahlen führen“, ist Schnell überzeugt. Die Fraktion Die Linke/Klimaliste habe der Resolution seinerzeit nicht zustimmen können, „da darin Ressentiments geweckt und Ängste geschürt werden, die wir nicht teilen. Die Wortwahl hielten wir, vorsichtig ausgedrückt, für bedenklich und der Sache nicht angemessen.“
Diese Meinungen teilen auch die Grünen im Vogelsberger Kreistag, die ebenfalls gegen die Resolution gestimmt hatten: „Insbesondere die drastischen Worte, die in der Resolution verwendet wurden, um die Situation zu beschreiben – zum Beispiel ,Kollabierung des Systems‘ und ,massiver Zustrom‘ – wurden von uns als unangemessen und übertrieben angesehen. Bedenklich ist, dass die Resolution am Ende den Applaus der AfD fand“, erklärt der Fraktionsvorsitzende Udo Ornik für die Kreistagsfraktion . Stattdessen forderten die Grünen, „die Fakten geradezurücken und darauf hinzuweisen, dass Flüchtlinge in der Regel aus gerechtfertigten Gründen, wie Krieg und humanitäre Katastrophen, ihre Heimat verlassen“. Man betone zudem, dass die Aufnahme und Prüfung des Asylrechts von Flüchtlingen dem Menschenbild und den Werten eines humanistisch geprägten Europas entsprechen. „Wir möchten zudem all diejenigen in der Verwaltung und Freiwilligen erwähnen, die hier Unglaubliches leisten und die Respekt und Anerkennung verdienen.“ Gleichzeitig fordert aber auch Ornik: „Der Bund und das Land Hessen müssten unterstützen, jedoch löse man das Problem nicht durch Alarmismus und drastische Metaphern.“
Dahingegen betont der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler, Lars Wicke: Die Resolution zu verabschieden, sei nicht alarmistisch gewesen. Als alarmistisch bezeichne er aber die Berichterstattung durch die Presse. Der Landrat habe deutlich gemacht – „es kann so nicht gehen“. Dass es nun weniger dramatisch eingetreten sei, „sollte uns alle freuen“. Dabei dürfe man auch nicht vergessen, dass bereits circa 1600 Geflüchtete im Kreis leben. „Der Vogelsberg kann die Folgen der Fluchtbewegung nicht lösen, er erfüllt lediglich seinen Anteil – mit seinen Möglichkeiten, die endlich sind“, betont Wicke. Schuld an der Misere trägt für ihn Berlin. „Anstatt Asylbewerber Jahre lang zu verwalten, muss das gesamte Verfahren massiv beschleunigt werden. Die Ressourcen müssen denen helfen, die dauerhaft bleiben werden“, denkt er und fordert: „Deutschland muss mehr in den Krisenregionen oder deren Nachbarländern helfen, damit sich Menschen überhaupt nicht auf gefährliche Flucht begeben.“
Auch der AfD-Fraktionsvorsitzende Gerhard Bärsch kann keinen Alarmismus in dem mehrheitlich beschlossenen Hilferuf erkennen: „Die beschlossene Resolution sei keineswegs alarmistisch gewesen, „sondern eher ein Minimalkonsens der Kreispolitik“, denkt Bärsch. „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die monatlichen Flüchtlingszahlen deutlichen Schwankungen unterliegen. Fakt ist: Kaum ein Land auf der Welt hat im Jahr 2022 mehr Geflüchtete aufgenommen als Deutschland.“ Im Jahr 2022 hätten 244.132 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt, dies seien 27,9 Prozent mehr als im Vorjahr – Ukrainer nicht eingerechnet. „Die Unterbringung, Versorgung und Integration dieser vielen Menschen stellen das System nach wie vor, vor immense Herausforderungen. Die globalen Flüchtlingsströme reißen nicht ab. Wir gehen daher derzeit davon aus, dass die prognostizierte Zahl an Geflüchteten, die der Vogelsbergkreis aufnehmen muss, zum Jahresende 2023 mindestens erreicht wird.“
Von cl/mge/cdc