Stephan Paule ist seit zehn Jahren Bürgermeister der Stadt Alsfeld. Im Redaktionsgespräch blickt er zurück: Es geht um Stolz, Glück, Familie, Ambitionen und Spürnasen.
ALSFELD. Zehn Jahre ist Stephan Paule Bürgermeister der Stadt Alsfeld. Am 17. September 2013 wurde der Christdemokrat in das Amt eingeführt, seine Fußstapfen hat er schnell hinterlassen, allem voran die Wirtschaft der zuvor jahrelang klammen Stadt. Die Wiederwahl 2019 ohne Gegenkandidaten war lange vorher gewiss, heute haben Schulabgänger in Alsfeld zumindest nie bewusst einen anderen Alsfelder Bürgermeister kennengelernt. Wie blickt Paule selbst auf sein Wirken in der Stadt? Wie hat er sich in den vergangenen zehn Jahren entwickelt, was hat er über sich gelernt? Was sind seine Sorgen? Wie hat sich sein Blick auf die Welt durch die Geburt seines Sohnes verändert? Wie sieht er sich als Chef? Und warum haben die Mitarbeiter der Verwaltung mehr unter seiner Ungeduld zu leiden als er selbst? Unsere Zeitung hat zu seinem zehnjährigen Amtsjubiläum unter anderem darüber mit ihm gesprochen. Interessant für die Vorbereitung war dabei auch ein Blick in das Archiv unserer Zeitung. Einen Monat nach Paules Amtseintritt nämlich hatte der damalige Jugendseiten-Autor Christian Gonder den jungen Bürgermeister einen Tag lang begleitet und seine Eindrücke in unserer Zeitung geschildert. Passagen daraus werden für das Gespräch zehn Jahre später als Grundlage dienen.
Herr Paule, im Jahrbuch Ihres Abiturjahrgangs an der Albert-Schweitzer-Schule haben Sie vor 27 Jahren über Ihre berufliche Zukunft geschrieben: Zuerst Jurist, dann Laufbahn beim Staat, vielleicht Politiker (Bundeskanzler?). Jugendlicher Größenwahn oder doch eine realistische Vorstellung?
Angenommen, Deutschland überkommt eine Katastrophe und ich bin der einzig übrig gebliebene Politiker im Land und man fragt mich, ob ich das Amt übernehme, dann stelle ich mich natürlich in den Dienst. Außerhalb dieses Szenarios halte ich das für unwahrscheinlich.
Aber realistisch betrachtet: Wohin soll Ihre berufliche Laufbahn noch führen?
Ich bin Bürgermeister der Stadt Alsfeld und diese Stelle fülllt mich voll und ganz aus. Alles andere sind rein hypothetische Überlegungen, denn wohin es realistisch gehen kann, kann man nicht sagen, es schließen sich Türen, es öffnen sich welche. Ist man politisch hauptamtlich tätig, stellt man sich in den Dienst einer Kommune, eines Landes oder des Bundes. Da geht es auch um die Frage "Wo werde ich gebraucht?"
Anders gefragt: Treten Sie 2025 erneut zur Bürgermeisterwahl in Alsfeld an?
Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, dann ja. Der Beruf füllt mich voll aus, Alsfeld ist meine Heimat. Unvorhergesehenes kann zwar immer passieren. Seit gut einem Jahr haben mit meiner Ehefrau und meinem Sohn aber auch noch zwei Menschen ein Wörtchen mitzureden, sollte es in Zukunft möglicherweise um eine berufliche Änderung gehen.
Hat sich durch die Geburt Ihres Sohnes Ihr Blick auf die Welt geändert? Hat sie eventuell Auswirkungen auf Ihre politischen Entscheidungen genommen?
Ja und nein. Ich habe auch vorher bei allen Diskussionen und Entscheidungen die Zukunft im Blick gehabt. Was sich aber verändert hat, ist die Intensität. Das, was man für richtig hält, ist jetzt noch wichtiger. Es verstärkt den Drang, diesen Weg weiterzugehen. Der Wille, der nächsten Generation eine gute Ausgangsbasis für ein gutes Leben zu hinterlassen, hat sich aus dem rein beruflichen auch ins private Leben verlagert.
Hinterfragen Sie sich und Ihre Entscheidungen?
Ja. Jeden Tag. Macht man das nicht, läuft man Gefahr, abzuheben. Beispielsweise lief die erste Bürgerbefragung zur Marktplatzgestaltung nicht gut, es gab Kritik, die wir annahmen. Wir haben von vorne begonnen. Es ist aber genauso wichtig, zu einer getroffenen Entscheidung zu stehen, sie zu vertreten, zu erklären und die Verantwortung für sie zu übernehmen.
Sie haben vor zehn Jahren gegenüber unserer Zeitung gesagt: "Sie sehen einen wirklich glücklichen Menschen vor sich". Wie sieht es heute aus? Sind Sie glücklich?
Ja, absolut. Aber die Gründe dafür sind vielfältiger geworden. Alsfeld ist erst nach der Wahl zum Bürgermeister zu meiner Heimat geworden, ich habe geheiratet, hier wächst mein Sohn auf. Auch gehe ich nach wie vor gerne zur Arbeit. Auch wenn es natürlich wie in jedem Beruf mal Tage gibt, die weniger Freude bereiten.
Zum Beispiel?
Wenn es etwa um Projekte geht, die sich über viele Jahre ziehen, wie zum Beispiel das Museum, die Standortdebatten beim Kindergarten oder beim Industriegebiet. Trotzdem muss man diese Themen mit Elan vorantreiben. Es braucht irgendwann eine Entscheidung.
Sind Sie ungeduldig?
Ja. Ungeduldig bin ich. Meine Ungeduld nervt meine Mitarbeiter vielleicht mehr als mich selbst. Ich denke, es kommt bei ihnen nicht immer rüber, wie sehr ich sie wertschätze. Aber ich arbeite daran.
Darüber hinaus: Was würden Sie sagen, was Sie vor allem in den vergangenen zehn Jahren gelernt haben?
Kommunikation ist meistens der Schlüssel zum Erfolg, sie vereinfacht zumindest viele Prozesse. Darüber hinaus habe ich gelernt, zuzuhören und berechtigte Kritik anzunehmen. Ohnehin muss Kritik nicht immer zurückgewiesen werden, man kann auch mal etwas aushalten. Nehmen wir den Schwälmer Brunnen. Hier tut sich lange nichts, es gibt Kritik, weil es nicht vorangeht, die Stadt müsse doch mal etwas unternehmen, heißt es dann. Dann bringt es wenig, über Seiten detailliert darzulegen, wo die genauen Probleme liegen. Das kann man sagen, es will aber keiner hören. Das muss man einfach auch mal aushalten. Und vor allem im Hintergrund daran arbeiten, dass es so bald wie möglich wirklich wieder voran geht.
Unser Autor hat sich vor zehn Jahren die Frage gestellt, ob Sie nachts von einem ausgeglichenen Haushalt träumen, Sie selbst aber nicht gefragt. Also: Träumen Sie nachts von einem ausgeglichenen Haushalt?
Es wäre schlimm, wenn man nachts von solchen Dingen träumt.
Aber Sie haben die städtischen Finanzen von Beginn an zu Ihrer Hauptaufgabe gemacht.
Wir waren pro Kopf eine der am höchsten verschuldeten Städte Hessens. Wir konnten seit 1995 nicht wirklich investieren. Diesen Investitionsstau merken wir noch heute. Daher war die Haushaltssanierung oberstes Gebot. Und sie war erfolgreich, wir haben fast immer ausgeglichene Haushalte vorweisen können, 2023 auch wegen Corona und der Ukraine-Krise nicht ganz. Aber wir können mittlerweile auf Rücklagen zurückgreifen. Das war vor einigen Jahren undenkbar.
Sind Sie stolz darauf?
Ja, das bin ich. Nicht, weil der ausgeglichene Haushalt auf dem Bilanzblatt schöner aussieht, sondern weil wir dadurch handlungsfähig sind. Wir können investieren, wir können uns Sachen wie den Neubau von Kitas leisten, die Renaturierung der Schwalm und so weiter. Auch die Bürger werden entlastet. Der ausgeglichene Haushalt ist somit nur ein Zwischenziel, ein Mittel zum Zweck.
Neben einem gesunden Haushalt sind es auch Fördermittel, die Investitionen möglich machen. In unserem Bericht aus 2013 heißt es: "Paule ist wie ein Spürhund auf der Suche nach mehr Einnahmen und der Vermeidung von zu hohen Ausgaben." Ihre vielleicht größte Stärke als Bürgermeister in den vergangenen zehn Jahren?
Meine größte Stärke ist das Anstoßen von Projekten und sie bis zum Abschluss zu bringen. Dafür ist es nötig, jeden städtischen Euro zu zwei oder drei investierten Euros zu machen. Dafür sind Fördermittel nötig. Neben Förderdatenbanken sind dabei Kontakte zu Wiesbaden und Berlin, aber auch zu privaten Investoren hilfreich.
Ist es Ihnen wichtig, dass Ihre Leistungen von der Öffentlichkeit gesehen werden, sie anerkannt werden?
Es geht nicht darum, dass der Bürgermeister in der Zeitung steht, sondern das, was die Stadt für ihre Bürgerinnen und Bürger unternimmt, das macht die Stadt attraktiv. Eine Stadt muss eine positive Außenwirkung haben, dafür rühre ich die Werbetrommel.
So selbstlos? Schließlich sind Sie auch Politiker, der wiedergewählt werden möchte.
Dass Leistungen öffentlich wahrgenommen werden, ist immer wichtig. Im Guten wie im Schlechten. Für mich bedeutet das, Verantwortung zu übernehmen. Wenn etwas Positives zurückkommt, dann gebe ich das an die involvierten Mitarbeiter weiter. Wo Kritik auf die Stadt einprasselt, muss ich erst einmal ein breites Kreuz haben und es anschließend intern klären.
Was bereitet Ihnen Sorgen?
Dass die überbordende Bürokratie unsere Handlungsspielräume immer weiter einschränkt. Hinzu kommt die starke Inflation, die auch den Kommunen zu schaffen macht. Das ist eine präsente Gefahr. In den eigentlich wichtigen Dingen wirft uns das zurück.
Fürchten Sie nicht auch die Folgen des Klimawandels?
Doch, aber er betrifft die gesamte Welt. Akut lebensbedrohlich ist er für uns hier in Mitteleuropa zunächst nicht. Wir in Deutschland und der gesamten westlichen Welt müssen dafür sorgen, als Beispiel voranzugehen, Lösungen zu finden, wie man dem Klimawandel begegnen kann, ohne dabei unseren allgemeinen Wohlstand zu verlieren. Wir brauchen ein Modell für Nachahmer, das auf weitere Staaten übertragen werden kann. Kein Modell, das andere abschreckt. Der Verlust des wirtschaftlichen Erfolgs eines Landes wäre für viele aufstrebende Länder in der Welt eher abschreckend als nachahmenswert.
Was stimmt Sie dafür optimistisch?
Die Anpassungsfähigkeit des Menschen, es gab und gibt immer Menschen, die kluge Lösungen gefunden haben. Unsere Demokratie bietet dafür die besten Voraussetzungen.
Bereitet Ihnen unsere Demokratie, das Erstarken der AfD, nicht auch Sorgen?
Doch, ja. Es ist erschreckend, wie eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei gerade in ländlichen Regionen Zulauf erhält. Es ist daher umso mehr die Aufgabe der Parteien und Politiker, den Menschen zu zeigen, dass Probleme vor Ort ernst genommen werden und sie gelöst werden.
Sie meinen beispielsweise die Integration von Geflüchteten. Zum Beispiel, ja. Die hier angekommenen Menschen müssen versorgt werden, gleichzeitig braucht es Entscheidungen des Bundes darüber, wie es weitergehen soll. Die Stadt entscheidet wenig, auch der Kreis. Wir können nach oben weitergeben: "Vorsicht, wir kriegen die Menschen nicht richtig untergebracht, es gibt Probleme." Wenn man dann nicht spürt, dass das wirklich ankommt, dann wird es gefährlich. Es müssen Entscheidungen getroffen und kommuniziert werden, mit denen man wahrscheinlich aneckt. Bleiben die aber aus, überlässt man dieses wichtige Thema der AfD.