Sonntag,
10.11.2019 - 16:35
4 min
"Gießen wurde ein Sehnsuchtsort"
Von Rüdiger Schäfer

Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich moderiert die Erzählungen der Podiumsgäste. Foto: Schäfer
GIESSEN - "Mit Bundesbürgern hätten wir das gar nicht geschafft. Aber mit DDR-Bürgern, die Unannehmlichkeiten und Schlangestehen kannten, ging das", erzählte Heinz Dörr bei der Bürgerveranstaltung im ehemaligen Notaufnahmelager im Meisenbornweg. Nach der Maueröffnung am 9. November 1989 waren es allein in diesem Monat mehr als 23 000 Menschen gewesen. Dörr war langjähriger Leiter - 1971 bis 1990 - der Landeseinrichtung.
Gut 900 000 Menschen kamen zwischen 1946 und 1990 über Gießen in die Bundesrepublik. Der Fall der Mauer am 9. November 1989 ebnete den Weg zur Wiedervereinigung. Deshalb hat der 9. November eine besondere Bedeutung - nicht nur für die deutsche Geschichte. Auch die Stadt Gießen ist damit eng verbunden. Das Notaufnahmelager war ein zentraler Anlaufpunkt für Dissidenten, Flüchtlinge, Übersiedler und politische Gefangene aus der DDR sowie Aussiedler aus der Sowjetunion.
An das historische Ereignis des Mauerfalls vor 30 Jahren wurde nun aus verschiedenen Perspektiven erinnert: mit einem prominent besetzten Podium, einer Ausstellung, einem Vortrag sowie Möglichkeiten zum Rundgang. Zugleich war es eine der letzten Möglichkeiten, die Einrichtung vor einer Neunutzung von innen zu sehen. Veranstalter waren das Regierungspräsidium Gießen, Stadt und Landkreis sowie die Justus-Liebig-Universität.
"Fast eine Million Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR kamen bis zur deutschen Wiedervereinigung hier in Gießen an", berichtete Regierungspräsident (RP) Dr. Christoph Ullrich. Verantwortlich für das Bundesnotaufnahmelager war das hiesige Regierungspräsidium. "In lockerer Form und ungezwungen" sollte, so der RP, "an den Mauerfall und den Höhepunkt einer Revolution ohne Blutvergießen" in dieser Bürgerveranstaltung erinnert werden.
Zum Auftakt fand eine Podiumsdiskussion mit vier spannenden Zeitzeugen statt. Jörg Bombach ist aus dem HR-Fernsehen (Hessenquiz) bestens bekannt. Im Wendeherbst legten er und Thomas Koschwitz bei einer "HR3 Disco-Party" für Übersiedler an den Lahnwiesen direkt unterhalb des Notaufnahmelagers auf. 30 000 Menschen kamen, so viele wie niemals davor und danach. Ein Rekord auch für den Moderator selbst, der immerhin bei 1200 Disco-Abenden für den Hessischen Rundfunk im Einsatz war. Ein Trabbi-Konvoi hatte sich zu der Veranstaltung nach Gießen aufgemacht. Veranstaltungstechnisch habe für den unerwarteten Massenandrang improvisiert werden müssen. "Die Party hinterließ ein einzigartiges Glücksgefühl, eine riesige Emotionalität hatte sich über die gesamte Nacht hinweg verbreitet. Erst nach 3 Uhr machten wir Schluss."
"Sehr gut betreut"
Monika Kresov war in 1973 aus der DDR nach Gießen gekommen und "sehr gut betreut worden." Nach einem gescheiterten Fluchtversuch hatten sie und ihr Freund, der spätere Ehemann, mehr als ein Jahr hinter Gittern verbringen müssen. "Wir haben jede Woche einen Brief geschrieben." Dieser wöchentliche Brief an das DDR-Regime habe dazu geführt, dass sie einige Zeit nach ihrer Freilassung unvermittelt ausreisen durften. "Uns wurde aufgegeben, innerhalb von vier Wochen unsere gesamte Wohnung samt vollem Kohlekeller auszuräumen." Außer etwas Handgepäck hätten sie alles zurücklassen müssen.
Heinz Dörr hatte viele der seit Mitte der 60er Jahre insgesamt 27 000 freigekauften DDR-Bürger, die zumeist inhaftiert gewesen waren, per Bus in Herleshausen abgeholt, um sie nach Gießen zu bringen. "Es waren James-Bond-Aktionen", erzählte er von den Übergaben.
Staatsminister a.D. Dr. Alois Rhiel war damals der Regierungspräsident, der sich noch sehr gut an die Stimmung des Aufbruchs erinnern konnte. "Ich hatte am 1. August 1989 als RP begonnen und schon einige Tage später kamen hier im Meisenbornweg 14 Sonderzüge an." Es waren mehrere tausend Menschen, die auf dem Prager Botschaftsgelände ausgeharrt hatten, bis Außenminister Hans-Dietrich Genscher ihnen vom legendären Balkon die Ausreisebotschaft verkündet hatte. Den Ruf "endlich Freiheit" habe er heute noch im Ohr. Diese Menschen hätten nicht nur viel Mut bewiesen, sie könnten auch stolz auf ihren Mut sein.
Moderiert wurde die Gesprächsrunde von RP Christoph Ullrich, der auch den Bogen zur Gegenwart schlug. Zwischenzeitlich ist die Erstaufnahmeeinrichtung Hessen komplett in die Rödgener Straße verlegt worden.
Während der gesamten Bürgerveranstaltung konnte die Ausstellung "30 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit - als die Flüchtlinge aus der DDR nach Gießen kamen" besichtigt werden. "Die Gießener können stolz darauf sein, dass es ihre Stadt war, die in der DDR für Hunderttausende ein Synonym für Freiheit war", sagte Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz. "Gießen wurde ein Sehnsuchtsort für alle, die die DDR verlassen wollten oder mussten." Das Klima "in unserer Stadt" für Welttoleranz habe geprägt, "dass wir in vielen Jahrzehnten ganz unterschiedliche Menschenströme aufgenommen haben." An die Landesregierung appellierte die OB, in das geplante Museumsprojekt einen außerschulischen Lern- und Erinnerungsort mit einzubeziehen.
Das Projekt von Stadt und Landkreis war extra für die Bürgerveranstaltung aktualisiert worden. Gefördert durch Mittel der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hatten Auszubildende vor einem Jahrzehnt insgesamt 19 Schautafeln erarbeitet. "Die Azubis befassten sich mit der Fluchtbewegung, den Ereignissen in der DDR und in Gießen mit dem ehemaligen Bundesnotaufnahmelager und sie interviewten Zeitzeugen", berichtete Landrätin Anita Schneider. Vor genau zehn Jahren wurde die Wanderausstellung - inklusive echtem Trabbi - im Rathaus feierlich eröffnet. Zunächst war sie wochenlang dort im Foyer zu sehen. Dann ging sie ein Jahr auf Tour durch die weiterführenden Schulen von Stadt und Landkreis. "Das mediale Interesse war enorm", erinnerte sich die Landrätin. Rundfunk, Fernsehen und die Printmedien berichteten über das Projekt. Zuletzt wurde die Ausstellung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in der Hessischen Landesvertretung in Berlin gezeigt. "Erinnerungskultur zu pflegen, ist wichtig", so Schneider. "Für mich ist heute Feiertag, weil an dem Tag der Maueröffnung viele geteilte Familien wieder zusammenfanden."