Von Schüssen zu Leuten, die den Schuss nicht gehört haben: In Hessen und andernorts ist die Lage verzweifelt, aber nicht ernst. Das ist heute wichtig.
Hessen. Auch der Versuch, diesen Newsletter ausnahmsweise mal dem Wahren, Schönen, Guten zu widmen, wurde von den Schüssen getroffen, die gestern Abend in Hamburg gefallen sind. Mindestens acht Tote sind wohl Folge eines Amoklaufs, der eine Zusammenkunft der „Zeugen Jehovas“ traf. Klar muss es in einem solchen Fall bei Polizei und Presse rasend schnell gehen. Aber dass noch nach Stunden von einer „Kirche“ schwadroniert wurde, was etwas anderes ist als etwa der „Königreichssaal“ in Alsterdorf, dass ein toter Verdächtiger im 4. Obergeschoss eines Hauses gefunden wird, das dann nur zwei Geschosse haben soll – all dies hat zur ohnehin großen Verwirrung beigetragen.
Die Stimmung ist jedenfalls wieder mal am Boden. Aber machen wir es doch so: Alle drei furchtbaren Themenkomplexe in diesem Newsletter werden mit je mindestens einem Lichtblick aufgehellt. Und dazu gibt es einen Abspann, der – so bierernst er auch daherkommt – zumindest meine Laune etwas bessert. Einverstanden?
TOP 3 DES TAGES
Putin und die Auguren
Bachmut im Osten der Ukraine ist, anders als jüngst an dieser Stelle orakelt wurde, noch immer nicht an die russischen Horden gefallen. Gut so. Selbst wenn es passiert, bleibt Diktator Wladimir Putin himmelweit hinter seinem imperialen Anspruch zurück (und morgen die ganze Welt), den nun mal keiner besser kennt als wir Deutsche.
Aber weiß Putin überhaupt, was sich auf den Schlachtfeldern der Ukraine zuträgt, die er allem Anschein nach noch nie inspiziert hat? Die „Washington Post“ hat da so ihre Zweifel. Gestützt auf Aussagen eines ehemaligen Putin-Vertrauten, entwirft sie das Bild eines Führers, dem aus purer Angst nur Erfolgsmeldungen vorgelegt werden. Zu allem Überfluss kommt in dem Essay auch noch Kanzler Olaf Scholz als maßgebliche Stimme des Westens vor!
Einig sind sich die Kreml-Astrologen, dass der Mann, also Putin, nicht verrückt ist. Dafür spreche seine „Halfway to hell“-Strategie, deren Anwender nur verbal zum Äußersten entschlossen sei, aber im Kriegsgebiet öfter mal halbe Sachen mache.
Nicht klar scheint, ob es für ganze Sachen überhaupt reicht und wie lange Putins Mörderbanden überhaupt noch angreifen können. Auch der Krieg in der Ukraine lehrt: Maximalszenarien können in aller Regel ausgeschlossen werden. Weder haben die westlichen Sanktionen Russland binnen weniger Wochen in die Knie gezwungen, noch hat Russland unendliche Reserven.
Auf Letzteres verweist sehr prononciert der Schweizer Militärökonom Marcus Keupp, der Russland auf dem Weg zum Entwicklungsland sieht. Während der litauische Geheimdienst davon ausgeht, Putin könne noch zwei Jahre so weitermachen, sagt Keupp zur größten Verwunderung der Interviewerin: „Im Oktober dieses Jahres wird die Ukraine Russland besiegen. Es ist ein Mythos, dass Russland über unendliche Reserven verfügt.“
Peccavi
Vom Mythos Katholische Kirche ist nicht mehr viel übrig, das sagen zumindest in Deutschland ihre eigenen Würdenträger. Man möchte seinem Aschesack gar nicht mehr entsteigen, nachdem nun herausgekommen ist, welche Rolle der fast schon vergötterte Mainzer Bischof Karl Lehmann in der Vertuschung der Missbrauchsstudie gespielt hat.
Als katholischer Funktionär und als Journalist hatte ich von Lehmann genau den Eindruck, der bis neulich auch posthum die hagiografische Berichterstattung über ihn prägte: ein freundlicher, etwas knurriger Mann, den Menschen zugewandt und in Sorge um ihre Seelen. Von wegen. Seine von Arroganz und Empathielosigkeit zeugenden Äußerungen und Handlungen werden im Licht der südhessischen Missbrauchsfälle noch unerträglicher. Mein Kollege Daniel Baczyk hat es auf sich genommen, sie aufzuschreiben.
Dass der sogenannte Synodale Weg direkt aus dem katholischen Schlamassel hinausführt, glaubt wohl ernsthaft niemand. Der Journalist Alexander Kissler aber geht mit ihm gar zu hart ins Gericht. Vom fruchtlosen Versuch, einer undemokratischen Institution auf allen Ebenen demokratische Prinzipien überzustülpen bis zu Gender-Arabesken gibt es tatsächlich einiges, das besser am Wegesrand liegen bliebe. Aber die Gleichberechtigung der Frauen in Abkehr von antiken Mustern, eine inhaltliche Debatte über den Zölibat (wie gestern in Frankfurt angestoßen) und schließlich die Befähigung von Laien, gleichberechtigt in der Kirche mitzuwirken: All das muss notfalls auch gegen Rom durchgesetzt werden.
Alternative facts reloaded
Das Purgatorium hat die Republikanische Partei in den USA noch vor sich. Einstweilen präsentiert sie sich in wesentlichen Teilen als demokratiezersetzende Riesen-Sekte. Und zu den besonders unerfreulichen Zukunftsaussichten gehört diejenige, dass die verkommene „Grand Old Party“ in nicht ferner Zukunft wieder einen der ihren ins Weiße Haus schicken darf.
Mitch McConnell wird es nicht sein. Mit 81 Jahren ist der Minderheitsführer im Senat selbst für dieses geriatrieoffene Amt zu alt. Eigentlich schade, denn immerhin McConnell platzte jetzt hörbar der Kragen. Fox-News-Drecksschleuder Tucker Carlson hatte den Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol am 6. Januar 2021 zum Besuch von Touristen verbogen. Dass ihm der demokratische Mehrheitsführer Chuck Schumer das Passende antworten würde, verwundert nicht weiter, sehenswert ist das Video aber trotzdem.
McConnells Wort aber hat in diesem Zusammenhang mehr Gewicht. Für dessen republikanische Wähler nämlich bastelt Carlson seit geraumer Zeit so lange an den Fakten herum, bis sie sich auf den Refrain reimen: Donald Trump wurde die Wahl gestohlen. McConnell war freilich einer von denen, denen Putschisten und nicht etwa Touristen nach dem Leben trachteten. Auch dieses halbminütige Video lohnt sich.
ZU GUTER LETZT
Räterepublik
Wer wäre nicht enthusiasmiert über diese Nachricht: Auch Vergaberechtler können Bedeutsames zum öffentlichen Recht schreiben? Nein? Gar kein Enthusiasmus? Gut, ich erkläre es kurz. Am Anfang stand die Forderung der radikalen Truppe „Letzte Generation“, sogenannte Bürgerräte aus zufällig ausgewählten Personen zusammenzustellen. Die dann in demokratische Prozesse immer dann hineinregieren könnten, wenn das Zauberwort „Klimaschutz“ fällt.
Während ich noch nach Luft rang und von der Last der Frage „wo fange ich bloß an zu erklären, dass das gefährlicher Stuss ist?“ erdrückt zu werden drohte, griff in Kiel der auf Vergaberecht spezialisierte Anwalt und Professor Marius Raabe zum Stift und schrieb das Notwendige auf.
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