Gießener Sängergruppen schicken Protestschreiben nach Wiesbaden
Über tausend Protestschreiben von hessischen Sängern sind derzeit unterwegs ins Wiesbadener Sozialministerium. Darunter auch viele Unterschriften aus Gießen und Region.
Von Ursula Hahn-Grimm
Da durften sie noch ohne Abstand singen: die Kantorei der Gießener Johanneskirche. Foto: Hahn-Grimm
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KREIS GIESSEN - Über tausend Unterschriften und Protestschreiben von Hessischen Sängerinnen und Sängern sind derzeit per Brief oder Mail unterwegs nach Wiesbaden. Darunter sind auch viele Unterschriften von Gießener Musikfreunden. Es geht um die aktuellen Regelungen, die das Hessische Sozialministerium zur weiteren Eindämmung des Coronavirus im Hinblick auf Freizeitaktivitäten und Veranstaltungen erlassen hat.
So haben sich die maßgeblichen Vertreter der Amateurmusik in Hessen (Hessischer Sängerbund, Hessischer Chorverband, Hessische Chorjugend, Landesmusikjugend, Mitteldeutscher Sängerbund und Hessische Liebhaberorchester) in einem Schreiben an Ministerpräsident Volker Bouffier und Sozial- und Gesundheitsminister Kai Klose gewendet. Mit dabei ist auch der Sängerkreis Gießen. Kritische Stimmen kamen ebenso aus den Reihen von Kirchenmusikern.
Die Verbände sind sauer über eine Auslegung zum sogenannten Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsgesetz des Hessischen Sozial- und Gesundheitsministeriums. Darin heißt es wörtlich: "Es wird davon ausgegangen, dass ein besonderes öffentliches Interesse für Chorproben nicht besteht; Chor und Orchesterproben, die nicht beruflich bedingt sind und für die deshalb kein öffentliches Interesse besteht, dürfen daher aktuell nicht stattfinden."
HINTERGRUND
Der Sängerkreis Gießen gehört mit seinen 40 Gesangsvereinen zu den größten Regionalverbänden innerhalb des Hessischen Sängerbundes. In den Vereinen betätigen sich 17 Männerchöre, 7 Frauenchöre, 23 gemischte Chöre, 8 Jugendchöre und 13 Kinderchöre. Manchen Vereinen sind auch Theater- oder Instrumentalgruppen angegliedert. Mehr als 2000 Frauen und Männer aller Altersgruppen finden sich in all diesen Chören zusammen, pflegen mit verschiedenen Schwerpunkten den Chor-Gesang. Manche tun dies noch auf traditionelle Art. Immer widmen sie sich - ähnlich wie beim Breitensport - alten und neuen Formen des Chorgesangs. Romantische und moderne Sätze sind ebenso beliebt wie Rock, Pop, Folk und geistliche Lieder, Gospel und Spirituals. Zu all diesen Gruppen kommen noch Kirchenchöre, Schulchöre und Gruppen der Musikschulen, die nicht in den Zahlen erfasst sind. Zudem gibt es auch einige Chöre rund um Gießen, die in keinem Verband organisiert sind. (uhg)
Die Verbände betonen, dass die Chor- und Orchesterszene in Hessen derzeit ausschließlich aus Gründen des Infektionsschutzes nicht aktiv in Erscheinung trete. "Dies ist allerdings nicht mit fehlendem öffentlichem Interesse von über einem Sechstel der hessischen Bevölkerung gleichzusetzen. Aber offensichtlich waren unsere zahlreichen Mitglieder (bewusst) zu leise, weshalb ihre Bedeutung von Ihrer Seite auf fatale Weise falsch gedeutet wurde", wie es in dem Protestschreiben heißt. Die Amateurmusik trage seit Jahren zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei, sei essenzieller Bestandteil außerschulischer Bildung, sei Stätte multikulturellen Austauschs, fördere Gesundheit, erhöhe die Lebensqualität, schaffe Freundschaften und sei Teil der Identität zahlreicher, insbesondere junger Menschen in Hessen. Und weiter heißt es: "Ähnliche Begründungen werden von Ihrer Seite für die Erlaubnis zur Wiederaufnahme des Amateursportbetriebs herangezogen. Wir erwarten deshalb vom Land Hessen eine Gleichbehandlung von Amateurmusik und Amateursport." Musikproben und -konzerte könnten mit effektiven Hygienemaßnahmen ebenso im Freien stattfinden wie sportliche Aktivitäten. Abschließend betonen die Verbände: "Einem fehlenden öffentlichen Interesse an Amateurmusik widersprechen wir hiermit vehement".
Der Vorsitzende des Sängerkreises Gießen, Daniel Rac, weist auf eine weitere Textstelle in der Auslegung des Ministeriums hin. Hierin heißt es: "Zusammenkünfte und Veranstaltungen mit geselligem Charakter (z.B. Chorproben, Junggesellinnen- und Junggesellenabschiede) können aufgrund der aktuellen pandemischen Lage nicht im besonderen öffentlichen Interesse stehen". Dass die Sänger in einem Atemzug mit Junggesellenabschieden genannt werden, ist für den Vorsitzenden Rac besonders bitter. Denn bei offiziellen Festakten seien Chöre von der Politik durchaus gern gesehen, ein weitergehendes Interesse sei allerdings in den Verlautbarungen aus Wiesbaden nicht zu erkennen.
In ihrer Reaktion auf diese Sätze haben auch die hessischen Chor- und Musikverbände zu einer konzertierten Protestaktion auf Facebook (#zusammensingenwirstärker) aufgerufen. Zahlreiche Kommentare sind dort zu finden, nicht alle identifizieren sich allerdings auch mit dem Anliegen der Sänger. So schreibt etwa Joey Becker: "Vor dem Hintergrund, dass die kritisierte Passage seit Mitte Dezember in den Auslegungshinweisen zu finden ist; die Infektionszahlen, wie schon seit Mitte Februar prognostiziert, massiv steigen; und der Chorgesang leider in Bezug auf das Infektionsgeschehen problematisch ist; finde ich diese Aktion unangemessen."
Dennoch hat das hessische Sozialministerium den umstrittenen Text mittlerweile geändert, was den Sängerbund dazu brachte, per Facebook ein "Danke" nach Wiesbaden zu schicken. Und weiter heißt es in einem aktuellen Statement der Sänger: "Auch wir sehen mit Sorge die steigenden Inzidenzzahlen. Die Amateurmusik-Szene wird auch weiterhin verantwortungsbewusst bleiben. Trotzdem dürfen alle, die ihre Briefe noch nicht abgeschickt haben, dies auch weiter tun. Denn uns geht es darum, in den Öffnungskonzepten (wann immer sie auch eintreten) als Amateurmusik nicht vergessen zu werden."