Der Journalist und DDR-Oppositionelle Siegbert Schefke filmte heimlich die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. Nun stellt er sein neues Buch in Buseck und Wetzlar vor.
Von Björn Gauges
Geschichte wird geschrieben: die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. Die Bilder gingen um die Welt und sorgten dafür, dass sich immer mehr Menschen den Protesten anschlossen. Fotos: Schefke, Martell
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GIESSEN/BUSECK - Der Journalist Siegbert Schefke war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort - und schrieb so an einem Kapitel Weltgeschichte mit. Seine über die Grenze geschmuggelten Filmaufnahmen der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 gaben im überraschten Westen eine Ahnung davon, welcher oppositionelle Druck sich gerade in der DDR aufbaute. So trugen sie wie ein Brandbeschleuniger zum Anfang vom Ende der sozialistischen Diktatur bei. Zuvor jedoch musste der Ost-Berliner aber erst einmal die Stasi austricksen, um überhaupt ungehindert bis nach Leipzig zu gelangen. Als ganz besonderer Zeitzeuge ist der 60-Jährige am Samstag in Wetzlar und am Sonntag in Buseck zu Gast, wo er sein aktuelles Buch vorstellen wird (siehe Kasten), in dem er seine abenteuerliche Geschichte nacherzählt.
Die Stasi hatte den jungen Oppositionellen im Herbst 1989 längst im Blick. "Die sind mir überall hin gefolgt", erzählt er gut gelaunt beim Telefoninterview. Immer mit ein paar Metern Abstand, so dass der Oppositionelle stets wusste, mit wem er es zu tun hatte. Abschrecken ließ er sich von diesem "Operativen Vorgang" mit Namen "Satan" aber nicht.
Nachdem er eine Woche zuvor bereits eine Montagsdemo mit mehr als 10 000 Menschen in Leipzig miterlebt hatte, wusste er: "Das wird noch größer, da muss ich wieder hin!" Auch wenn er an diesem Tag vom Eingang und vom Hof seines Wohnhauses aus überwacht wurde, war sein Plan längst gefasst und detailliert vorbereitet. "Ich hab' mit einem Bolzenschneider ein Schloss geknackt, bin aufs Dach gestiegen und über ein paar Häuser bis zur Schönhauser Allee gelaufen." Dort traf er seinen Freund Aram Radomski, mit dem er sich in einen Trabi setzte und auf den Weg nach Leipzig machte. "Dabei haben wir einen Militärkonvoi überholt und wussten: Die haben was vor." Eine seltsame "Schweigestimmung" habe da zwischen ihm und seinem Begleiter geherrscht, berichtet Schefke über diese dramatischen Stunden, in denen niemand wusste, ob der Staat mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgehen würde.
Geschichte wird geschrieben: die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. Die Bilder gingen um die Welt und sorgten dafür, dass sich immer mehr Menschen den Protesten anschlossen. Fotos: Schefke, Martell
Siegbert Schefke
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In Leipzig angekommen, suchten die beiden dann nach einer günstigen Position, von der aus sich der erwartete Marsch filmen ließe. Sie klingelten beim Pfarrer, der ihren Plan tatsächlich unterstützte und sie einließ. Allerdings mussten sie bei Tageslicht auf den Turm klettern, weil der Aufstieg schwierig war und über "einige Hühnerleitern führte", wie Schefke erzählt. Gegen 16 Uhr bezogen sie in luftiger Höhe Position - "und so lagen wir nun da oben in der Taubenscheiße und warteten auf den Abend".
Und dann war es irgendwann soweit: Unter den beiden Filmemachern strömten die Menschen über die Straßen. Sie skandierten "Gorbi, Gorbi", "Wir sind das Volk", "Völker, hört die Signale" oder "Wir sind keine Rowdys", was sich gegen die diffamierende Staatspropaganda richtete. "So um die 70 000 Leute haben wir gezählt", erinnert sich Schefke - eine Zahl, die vielen anderen DDR-Bürgern Mut machte. Was ihm dabei auffiel: "Es gab überhaupt keine Transparente, weil die Leute keine Zielscheiben für Gewaltorgien bieten wollten."
AUFTRITT
. Siegbert Schefke gastiert am Samstag, 2. November, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek WetzlarEinen Tag später ist er, ebenfalls um 18 Uhr, im Busecker Kulturzentrum am Schlosspark zu Gast, um sein neues Buch vorzustellen. Hinzu kommt jeweils Livemusik mit der Band "Bandsalad", die Coversongs bekannter DDR-Künstler im Repertoire hat. Auch ein "Mauerfall-Trabi" wird ausgestellt. Der Eintritt kostet jeweils 10 Euro. (bj)
Die beiden Berliner hielten den Demonstrationszug mit ihrer Videokamera fest und machten sich umgehend auf den Heimweg. "Um 2 Uhr nachts war ich wieder zuhause, bin über das Dach eingestiegen, und keiner hat was gemerkt", sagt der Journalist. Das Bildmaterial hat er zuvor einem Spiegel-Kollegen mit Diplomatenstatus übergeben, der unkontrolliert über die Grenze kam. Am nächsten Abend wurde es von "Tagesthemen"-Moderator Hajo Friedrichs in der ARD präsentiert und von Millionen Zuschauern gesehen. Friedrichs sprach dabei von einem "italienischen Kamerateam", um die beiden Staatsfeinde zu schützen. "1990 hab ich einem Stasi-Offizier verraten, dass ich das war", lacht Schefke. "Der hat bis dahin noch immer nichts gewusst. Da bin ich bis heute stolz drauf."
Die Mauer zum Einsturz gebracht hätten die Bilder der Massenproteste zwar nicht, schränkt er ein. "Aber ich glaube schon, dass wir ihn um vielleicht 14 Tage beschleunigt haben." Denn eine solche Bewegung brauche Bilder, um die Menschen zu erreichen. Von einer Großdemo in Plauen zwei Tage zuvor hat die Öffentlichkeit fast nichts erfahren, "weil niemand dort gedreht hat".
Nun ist Siegbert Schefke wieder unterwegs, um "vor allem jungen Menschen Mut zu machen, dass sie etwas verändern können", wie er sagt. Immer wenn Jubiläen und runde Jahrestage anstehen, hält er Vorträge, geht in die Schulen und spricht über seine Zeitzeugenschaft der DDR-Diktatur. Gerade erst war er in Kalifornien, wo er Studenten von den Gefahren der Überwachungsgesellschaft berichtet hat. Und auch ein Kinofilm ist in Arbeit, "das Drehbuch bereits fertig", wie er berichtet. Denn eines ist ihm wichtig zu betonen: "Wer die Vergangenheit nicht verstanden hat, wird die Zukunft nicht begreifen."