Der Gießener Student Anton Humpe veröffentlicht seit Beginn der Corona-Pandemie jeden Tag ein Gedicht in seinem Blog. Doch bald soll damit Schluss sein.
. GIESSEN"panik: Der laden läuft nicht mehr, die bahnen fahren nicht mehr, die flieger fliegen nicht mehr, die clubs schließen, die raver raven zu hause, die cafés machen zu, die theater bleiben geschlossen, die grenzen machen dicht, restarurants, bootshäuser, kindergärten, der klang des lebens verebbt, leise, bleibt in den eigenen vier wänden..."
Diese in poetische Zeilen gefasste Situation ist den meisten Menschen allzu vertraut. Nach den Monaten der Ausgangsbeschränkungen haben inzwischen zwar wieder einige Einrichtungen geöffnet, doch längst noch nicht alle. Aufschlussreich ist es, das ganze Geschehen rund um die Corona-Pandemie noch einmal Revue passieren zu lassen, einen Tag nach dem anderen. Der junge Autor Anton Humpe, derzeit in Gießen ansässig, hat alles aufgeschrieben, minutiös protokolliert mit Beobachtungsgabe und Phantasie. Zu finden sind seine Berichte aus der Quarantäne derzeit als Blog im Internet (siehe Kasten).
Pünktlich zum Lockdown
Start seiner Aufzeichnungen war am 16. März, pünktlich zum Lockdown in ganz Deutschland. Jetzt ist Anfang Juni, sage und schreibe elf Wochen sind seither vergangen, mehr als 80 Tage - und an jedem Tag auch ein Gedicht. Humpe will weitermachen, bis zum 16. Juni. Irgendwann muss Schluss sein, sagt er im Gespräch in einem Café in der Gießener Fußgängerzone. Denn ebenso wenig wie man den Beginn der Pandemie kennt, wird man ihr Ende abschätzen können. Doch ganz zufällig ist das Datum nicht gewählt, denn am 16. Juni spielt der große Roman "Ulysses" von James Joyce.
Aus vielerlei Gründen lohnt es sich, in die Gedichtsammlung des jungen Bloggers Anton Humpe hineinzulesen. Er veröffentlicht unter dem Pseudonym "nachmitternacht". An jedem Tag gibt es neue Aspekte, kurze Gedichte, längere Gedichte, immer wieder dazwischen ein dreizeiliges japanisches Haiku. Da gibt es den "Quarantaenenblues" oder, frei nach Janis Joplin den Song "won't you buy me. oh lord, gib mir das letzte Klopapier"
Am 25. März widmet sich der Autor der "beziehung mit der zeit: Sie spielt keine rolle mehr in dieser zeit, sie vergeht einfach, läuft zwischen den sirenen, läuft irgendwie entgegen". Der Umgang mit der Zeit, mit der Aufforderung, zu Hause zu bleiben, eingeschränkte Kontakte: Anton Humpe geht es wie vielen anderen auch. Seit vier Jahren lebt er in Gießen als Studierender der Angewandten Theaterwissenschaften. Doch jetzt stockt alles, seine Zeit als Regieassistent der auf der taT-Studiobühne gezeigten Produktion "Snakedriver" ist vorüber, das Studium wird nur noch online fortgesetzt und selbst um seine Masterarbeit macht er sich Sorgen.
Nach Wochen der Einschränkung gab es vor wenigen Tagen dann endlich die ersten Lockerungen. Und so schreibt Humpe am 27. Mai: "die sirenen singen weniger, leiser, erzählen kaum noch geschichten vom schrecken und scheitern..." Da sind sie wieder, die Sirenen, doppeldeutiges Symbol bei Anton Humpe. Die Sirenen sind immer wieder zu hören, sowohl die Fabelwesen aus der griechischen Mythologie als auch die technischen Geräte aus dem Katastrophenschutz.
Nach seinen "Sirenen" ist auch ein Gedichtband benannt, der jetzt vom Berliner Verein SternenBlick veröffentlicht wurde. Humpe hatte von seiner Freundin Sandra Marie Heppes von dem Projekt erfahren und seine Arbeiten noch nach Einsendeschluss eingereicht. Doch das Berliner Kollektiv war so begeistert von diesen Texten, dass es sogar den Titel der Anthologie einem seiner Gedichte entnahm. (siehe nebenstehenden Artikel).
Vortrag auf Balkon
Anton Humpe wurde am 27. Juni 1992 in Hamburg geboren und lebte lange Jahre in Berlin, wo er auch das Abitur ablegte. Nach einer Reise über Land nach Indien und Nepal arbeitete er an diversen Projekten, beteiligte sich an Festivals und Konzerten. 2015 studierte er in Bamberg Germanistik und Philosophie, 2016 wechselte er zu den Angewandten Theaterwissenschaftlern in Gießen. Zudem veröffentlichte er mehrere Gedichtbände.
Am 19. Juni nun will er seine Masterabschlussarbeit vorstellen, angesichts der Corona-Beschränkungen wird die Aufführung von einem Balkon in Gießen gesprochen. Die Arbeit trägt den Titel "overkYll and redeconstructinism" und enthält eigene Texte und Adaptionen des US-amerikanischen Dichters Allen Ginsberg. Die Aufführung wird durch das Kulturamt der Stadt Gießen gefördert, dazu erscheint ein Booklet. War Anton Humpe bei Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland noch sehr unsicher, ob er seine Abschlussarbeit wird vorstellen können, ist er jetzt durchaus zuversichtlich. Als gutes Omen sieht er es auch, dass am 19. Juni Mittsommernacht ist. Und bis dahin wird vielleicht auch eine gedruckte Ausgabe seiner Quarantänengedichte vorliegen.